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Archiv-Artikel

Woher kommen bloß die Kopfschmerzen?

Wer mit den Bossen trinkt, kann sich am nächsten Tag nicht mehr erinnern, wie er über den Tisch gezogen worden ist

In der Grundschule nach der Religion gefragt, habe ich geantwortet: SPD. Meine Eltern haben nie etwas anderes gewählt, und wenn das Gespräch auf Willy Brandt kam, zog ein Geruch von Marienverehrung durch die Wohnung. In der Genealogie ist immer die Rede von schlesischen Webern und dann Arbeitern. Meine Großmutter war Zigarettenarbeiterin, mein Großvater Korrektor in der Reichsdruckerei. Eine typische Berliner Biografie. Es gab dann aber auch einen Clash.

Mein Vater hatte gegen den Widerstand seiner Eltern bei Borsig eine Maschinenschlosserlehre gemacht. Danach fing er bei der Gasag an, langsam stieg er in der Hierarchie Stufe für Stufe auf. Ich selber bin zwei Jahre vor dem Mauerbau geboren, und da auch noch an dem Geburtstag von Stalin. Nachdem die Stalinisten die Mauer gebaut hatten, hauten viele Menschen nach Westdeutschland ab und mein Vater war dann stellvertretender Gaswerksleiter des Gaswerks Neukölln. Wir wohnten in einer Villa auf dem Gelände des Gaswerks. Irgendwie war mein Vater, wenn er nach Hause kam und sich das Bier aufmachte, immer noch der Alte. Aber er musste jetzt auch mit der Gewerkschaft auskommen und hatte dabei die Seiten gewechselt. Also wurden die Gewerkschaftler eingeladen und über den Tisch gezogen.

Der Betriebsratsvorsitzende wohnte zwei Stockwerke höher. Er hatte sich aber so besoffen, dass er keinen Schritt mehr gehen konnte. Meine Mutter bestand darauf, ihn aus der Wohnung zu schaffen, außerdem gab es auch kein freies Zimmer. Wir drei Kinder schliefen in enem Zimmer. Also nahmen meine Eltern ihn an Armen und Beinen. Bei dem Versuch, ihn die Treppe hochzuschleifen, kam leider immer der Kopf auf die Treppen.

Der Kollege klagte am nächsten Tag über horrende Kopfschmerzen, konnte sich naturgemäß an nichts erinnern und widersprach meinem Vater nie mehr. Bei Willy Brandt konnte ich mir immer noch vorstellen, er hätte dieser Gewerkschaftler sein können. Als Helmut Schmidt Kanzler wurde, trug auch mein Vater eine Prinz-Heinrich-Mütze, und nach vielen Gesprächen in der U-Bahn mit einem jungen Kader nannte ich ihn dann einen Sozialfaschisten, was mir die einzige Ohrfeige meiner Kindheit eintrug, aber ich hatte, glaube ich, auch ziemlich genervt.

Gerade wegen alledem habe ich natürlich nie SPD gewählt, aber es würde einem eher die Hand abfallen, als dass ich konservativ wählen würde. Dazwischen lagen Sympathisieren und Mitarbeit bei den Hausbesetzungen. Als dann Schröder mit den Brioni-Anzügen auftauchte, war das ebenso fremd wie sich wirklich mit den Anti-Hartz-Demonstrationen solidarisieren zu wollen. Schröder glich dem Gewerkschaftler, der sich besoffen hatte und am nächsten Morgen sich mit verklärtem Blick an den Filmriss erinnerte.

Die SPD hat nie die 68er-Revolte aufgenommen, andere Protestbewegungen integriert, und auf einmal spielte der Arbeitnehmerführer Arbeitgeber. Schröder zitierte es mit allen Gesten, aber es hatte eher den Anschein, dass er, indem er den Stil zitierte, vermied, etwas zu tun. Sozialdemokratische Kanzler wie Brandt und Schröder implodieren an ihrem politischen Ende. Sie wissen nicht wirklich zu vermitteln, was sie tun wollen, und er wusste auch nicht, auf wen er sich beruft, nicht auf die Arbeiter, nicht auf die Intellektuellen, am ehesten noch lange Zeit auf die Arbeitgeber. Wenn die Macht nach dem 18. 9. verloren ist, wird er sich fragen, wie er zu seinen Kopfschmerzen gekommen ist.

MATTHIAS LILIENTHAL

Der Autor ist Intendant des HAU-Theaters in Berlin, des bis zur nächsten Umfrage in Theater heute, die Mitte September herauskommt, immer noch amtierenden Theaters des Jahres