Elektrisierende Energie

Achraf Hakimi beschert dem BVB gegen Inter Mailand einen magischen Abend. Vor dem Spiel gegen die Bayern könnte die Stimmung nun nicht besser sein

Fußballgott für einen Abend: Achraf Hakimi lässt sich feiern Foto: reuters

Aus Dortmund Daniel Theweleit

Spät in dieser zauberhaften Fußballnacht kam es zu einer letzten zufälligen Begegnung des Helden mit seinem Trainer. Nach einer wilden Show eilte der zweifache Torschütze Achraf Hakimi dem Kleinbus entgegen, der ihn vom Ort seiner Großtaten fortbringen sollte, als Lucien Favre auftauchte und ihm mit erhobenem Zeigefinger ein paar letzte Gute-Nacht-Worte zuraunte. Dann verschwand Hakimi, flankiert von ein paar in Schwarz gekleideten Kumpels, die aussahen wie eine HipHop-Gang aus der Pariser Banlieue.

Favre kennt seine Jungs. Zuletzt musste er mitansehen, wie sich Jadon Sancho ein wenig zu sehr seiner Hybris hingab und längst nicht mehr so brillant Fußball spielt wie in seinen besten Phasen. Da kann sicher auch Hakimi ein wenig Erdung gebrauchen, denn der Marokkaner fliegt spätestens nach diesem magischen 3:2 gegen Inter Mailand ganz weit oben in den Sphären der Fußballgötter.

Mit 0:2 hatte der BVB in dieser richtungsweisenden Partie zur Pause zurückgelegen, wieder waren ihnen vermeidbare Fehler beim Verteidigen passiert, der zarte Aufschwung der vergangenen Tage drohte ernsthaft Schaden zu nehmen. Doch Hakimis elektrisierende Energie machte eine unglaubliche Wende möglich. Zwei Tore schoss der noch bis zum Sommer von Real Madrid ausgeliehene Profi, damit hat er als gelernter Rechtsverteidiger vier der fünf Dortmunder Champions-League-Treffer erzielt. Und sein Tor zum 1:2 war typisch für das unberechenbare Spiel dieses besonderen Fußballers. Am Mittelkreis eroberte er einen Ball, während der Angriff weiterlief, sprintete er in den Strafraum und lenkte einen Rückpass von Mario Götze aus kurzer Distanz zum 1:2 ins Tor.

Hakimi hatte Räume gefunden, in denen Rechtsverteidiger meist nur in Fällen akuter Orientierungslosigkeit auftauchen. „Er bringt uns diese Gier, diese Verrücktheit, diese läuferische Intensität, das tut unserem Spiel sehr gut“, sagte Sebastian Kehl, der Leiter der Lizenzspielerabteilung.

Danach wirkte die Mannschaft, als habe jemand die Energiezufuhr aufgedreht. Julian Weigl sollte später von einem „Rausch“ sprechen, Julian Brandt gelang das 2:2 (64.), bevor Hakimi auch noch den Siegtreffer erzielte (77.) „Er ist sehr, sehr offensiv, extrem offensiv, egal ob er Verteidiger spielt oder Flügelspieler“, sagte Favre später über Hakimi. Es war nicht schwer, diesen Worten eine gewisse Zerrissenheit zwischen tiefer Begeisterung und inneren Widerständen angesichts der Unberechenbarkeit Hakimis zu entnehmen. Favre mag Kontrolle, während Hakimi stets bereit ist, taktische Pflichten und verabredete Pläne zugunsten der offensiven Chance aufzugeben. „Er will immer nach vorne“, sagte Favre, „er spürt die Situation sehr, sehr gut“, deshalb spielte Hakimi zuletzt meist auf dem offensiven Flügel.

An diesem Abend kam er mal wieder hinten zum Einsatz, weshalb der ehemalige Weltklasseverteidiger Per Mertesacker als TV-Experte eine gewisse Mitschuld Hakimis am frühen 0:1 von Lautaro Martínez (5.) erkannte. Der Dortmunder hätte seinen Kollegen Manuel Akanji besser absichern können, und womöglich wird auch Favre noch einmal auf diese Situation hinweisen. Aber das war eine Kritik auf sehr hohem Niveau, denn der Hauptfehler war Akanji unterlaufen.

„Er bringt uns diese Gier, diese Verrücktheit, diese Intensität“

Sebastian Kehl, Teammanager

Wer Hakimi mit seiner wilden Lust an der Offensive will, muss eben die Schattenseiten dieser Spielweise aushalten. Und am Ende waren alle dankbar, dass Hakimi endlich mal wieder diesen Ur-BVB geweckt hatte, den alle so sehr lieben. „Das war richtiger BVB-Fußball, sehr intensiv, sehr mutig“, schwärmte Kehl.

Diesmal spielte das Team schon in der ersten Hälfte nicht diesen übergeduldigen Sicherheitsfußball, wie er zuletzt häufiger zu sehen war, die Mannschaft fand viele Wege in den Strafraum. Der Haken: Zwei kleine Fehler wurden mit zwei Gegentreffern bestraft. Favre war aber nicht sauer, das Offensivspiel hatte ihm gefallen, der BVB habe insgesamt mit viel „Geduld, Tempo und Intensität“ agiert, sagte der Trainer. Immer noch lag eine sanfte Euphorie in seiner Stimme, nachdem er in den finalen Minuten an der Seitenlinie herumgesprungen war, als müsse er höchstpersönlich die Schlussoffensive der Mailänder bremsen. Mitunter rannte er auf den Platz, um taktische Anweisungen zu geben, und am Ende gab es sogar ein Lob des Geschäftsführers Hans-Joachim Watzke, der sich während der vergangenen Wochen intern zunehmend kritisch zu dem Schweizer Trainer geäußert haben soll. „Auch er hat überlegt: Was kann ich verändern? Er lebt das. Das gefällt mir“, sagte Watzke nach dem Abpfiff über Favres Entwicklung.

Rechtzeitig zum großen Duell beim FC Bayern scheinen die Dortmunder also wieder zu sich gefunden zu haben: Der Trainer ist zufrieden, der Spielstil findet Anerkennung, Mut sowie Selbstvertrauen sind zurück, und in Hakimi haben sie nun auch einen aufblühenden Star in Hochform.