: Besser ohne Knappschaft
Bei dem „Berliner Manuskripte“-Nachmittag stellen Literaturstipendiat_innen ihre unfertigen Texte vor – die Klasse von ’19 hat glücklicherweise so gar nichts Gefälliges
Von Jens Uthoff
Ganz am Ende gehts’s doch noch mal ums Geld. Denn als Letzter an diesem langen Lesungsnachmittag ist der Dichter Ulf Stolterfoht an der Reihe, der darauf hinweist, dass die „Lyrik-Knappschaft Schöneberg“ weiterhin jeden Cent Unterstützung brauchen könne. Dieses Dichterhilfswerk, von dem Stolterfoht spricht, gibt es tatsächlich – er selbst, Autor der „fachsprachen“-Gedichtebände, ist übrigens nicht nur Knappe, sondern auch Kassenwart. Der Mann weiß also, wovon er spricht.
Aber bei der vom Literaturforum im Brecht-Haus und dem Berliner Senat initiierten Lesung „Berliner Manuskripte“ geht es auch ganz ernsthaft ums Geld (womit die Seriosität der Lyrik-Knappschaft nicht angezweifelt sei!). Denn im Kleinen Haus des Berliner Ensembles lesen am Sonntagmittag 19 Autor_innen, die von der Stadt Berlin mit dem 24.000 Euro schweren Arbeitsstipendium Literatur bedacht worden sind (alle Stipendiat_innen außer Kenah Cusanit treten auf); sie alle geben eine kurze Leseprobe und sprechen mit Moderator Knut Elstermann über die Motive ihrer Werke.
„Mit dem Stipendium werden Ideen, Entwürfe und Projekte gefördert, das Unfertige wird ausgezeichnet“, erklärt Christian Hippe, Leiter des Literaturforums, am Sonntagmittag einleitend – und das sei auch gut so. Der Work-in-Progress-Charakter der vorgetragenen Texte ist dabei mal mehr, mal weniger offensichtlich (sehr sympathisch Olga Grjasnowa, die während des Lesens unterbricht und sagt: „Hier hab ich geschmiert…“).
Auch in diesem Jahr sind sowohl einigermaßen arrivierte als auch relativ unbekannte Autor_innen dabei. Neben Grjasnowa lesen etwa Fatma Aydemir, Sandra Gugić und Senthuran Varatharajah, die sich einen Namen in der Literaturszene gemacht haben, daneben lernt man aber auch weniger renommierte Autor_innen kennen, auf deren Werk man nun umso gespannter darf: die gebürtige Litauerin Arna Aley etwa oder die Österreicherin Christina Maria Landerl. Erfreulich auch, dass die Hälfte der Stipendiat_innen 2019 einen Migrationshintergrund haben und 15 von 20 in diesem Jahr Frauen waren.
Interessanter als Details und Namen, interessanter als das Ökonomische aber ist das Stimmungsbild, das dieser Nachmittag von der Berliner Literaturszene zeichnet. So sind die Kurzlesungen und die Gesprächsrunde, durch die Moderator Elstermann wie durch ein Literatur-Speed-Dating führt, auch ein Ritt durch Zeiten, Orte, Weltgegenden. Katharina Schultens beamt uns in ihrem Entwurf „Urmünder“ ins Jahr 2184, in dem eine Biologin mit der Kreation von Mensch-Pflanzen-Chimären die Welt rettet. Christina Maria Landerl reist in ihrem Prosastück durch die Südstaaten der USA und baut einen Soundtrack von Bessie Smith, Patsy Cline und Billie Holiday mit ein (nach deren Song „All of me“ ist auch der Text bennant: „Alles von mir“). Fatma Aydemir dagegen verfolgt den Weg des Deutschtürken Hüseyin, der sich mit 59 Jahren endlich eine Wohnung in Istanbul leisten kann und dann einen Herzinfarkt erleidet (Arbeitstitel: „Dschinns“). Olga Grjasnowa wiederum führt uns in die konflikterprobte Kaukasusregion während der Zarenzeit.
Was positiv auffällt, ist, dass die Klasse von ’19 so gar nichts Gefälliges und Gemütliches hat, es sind auf sehr unterschiedliche Weise harte, widerständige Texte, die hier gelesen werden. Manchmal zeigt sich das bereits in den Titeln – die aus Weimar stammende schwarze Autorin Olivia Wenzel stellt ihr im Frühjahr erscheinendes Buch „1000 Serpentinen Angst“ vor, das sie eine „essayistische Weltdurchstreifung“ nennt –, die Berner Schriftstellerin Theres Grau, von Beruf Traumatherapeutin, liest den Epilog einer Missbrauchs- und Inzesterzählung. Sehr frisch, angriffslustig und humorvoll kommt im Anschluss Arna Aleys Text daher, in dem die potenziellen männlichen Sexualpartner der Gegenwart nicht sonderlich gut wegkommen: entweder Soziopathen oder Normalos, dazwischen wenig. Der Satz: „Ich biss mich mit den Augen in ihren Arsch fest“ blieb hängen. „Antidepressiva“ ist der Arbeitstitel. Möge der fertige Text auch so wirken.
Das Format „Berliner Manuskripte“, das es seit 2010 gibt, hat insgesamt sicher mit dem Problem zu kämpfen, dass man jeden Textentwurf nur kurz „abhandeln“ kann – für Literaturinteressierte aber gibt der Tag einem einen flotten und schnellen Einblick in das, was an der Spree gerade literarisch so geht. Die Stipendien sind zuletzt stetig ausgeweitet worden: Seit 2010 wurde das Preisgeld von 12.000 auf 24.000 Euro verdoppelt, aus 12 wurden binnen zehn Jahren 20 Stipendien. Für den neuen Haushalt – der im Dezember verabschiedet werden soll – sind zehn weitere Recherchestipendien à 8.000 vorgesehen, seit 2018 gibt es zusätzlich sechs Stipendien für nichtdeutsche Literatur, die auf zehn aufgestockt werden sollen (ebenfalls à 24.000 Euro). Die Bewerberanzahl ist ungebrochen hoch, für 2019 sind insgesamt 312 Anträge eingegangen.
All das wird der Literatur aus Berlin guttun, die Stadt dürfte– neben Wien vielleicht – der attraktivste Standort im deutschsprachigen Raum sein. So stellte auch Ulf Stolterfoht am Ende erfreut fest, dass „so ein Stipendium dazu führt, dass man unglaublich viel schreiben kann“ – und trug sprachliche Variationen von Frank-Zappa-Albumtiteln vor. Ein ziemlich guter Abspann dieses Nachmittags – und die Gedichte konnte er ganz ohne knappschaftliche Unterstützung schreiben.
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