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Die Schwermut bleibt sitzen

Intensive Auseinandersetzung mit dem Zusammensitzen: Mit ihrem Stück „Sitzen ist eine gute Idee“ beendet die Choreografin Antje Pfundtner ihre Trilogie über die Melancholie

Von Katrin Ullmann

Gegen Ende des Abends, wenn die Zuschauer sich auf ihren Klappstühlen längst zurechtgeruckelt haben; wenn sie gelacht, geschmunzelt und gemeinsam mit Antje Pfundtner über das Sitzen (und über das Aufstehen) nachgedacht haben: Dann also, als sie sich erwartungsvoll zurücklehnen, kündigt Pfundtner „kollektives Weinen“ an.

Freundlich lädt sie dazu ein und mit großer Ernsthaftigkeit. Nur ein paar Tränen müsse sie sich noch holen. Schnell sammelt sie ein paar Tropfen, tupft sie sich auf die Wangen und fängt an. Sitzend, der Klappstuhl neben ihr ist frei, ruft sie: „Mein linker, linker Platz ist frei, ich wünsche mir den Jan herbei.“ Später wünscht sie sich die Edith herbei, den Klaus, ihre Oma und viele andere.

Was wie ein heiteres Spiel beginnt, mündet bald in die Erkenntnis der traurigen, unverrückbaren Realität. Egal, wessen Namen die Hamburger Tänzerin und Choreografin ruft und bald verzweifelt schreit: Der Platz bleibt leer und man begreift, dass sie mit allem Schmerz nach den Toten ruft, nach den Fehlenden. Ein harmloses Kinderspiel wird zur eindringlichen Trauerklage, ein schlichter Klappstuhl zum Sinnbild für die brennenden Leerstellen im Leben.

Es ist – auch durch die fast unbekümmerte Ruhe danach – die berührendste, intensivste Szene des Abends. Das Stück, das Pfundtner und ihr Team mit „Sitzen ist eine gute Idee“ betitelt, ist der letzte Teil einer Trilogie. Den Auftakt bildete 2016 „Ende“, 2018 folgte „Alles auf Anfang“ sowie die performative Videoinstallation „Letzte Schritte“ (2019). Alle drei Arbeiten umkreisen das Thema der Melancholie, ihr jetzt gezeigtes Solo vielleicht am deutlichsten.

Auch wenn dessen Anfang ganz direkt und auf den ersten Blick fast banal daherkommt: Um überhaupt einen Klappstuhl und damit einen Sitzplatz auf der Bühne zu bekommen, wird der Zuschauer von gut zwei Dutzend Mitwirkenden – der Programmzettel nennt sie verschwörerisch „Kompliz*innen“ – in ein Gespräch verwickelt.

Die Kompliz*innen geben die Stühle heraus und mit ihnen die Frage: „Wofür stehen Sie auf?“ Für einen gelungenen Tag, für meine Kinder, für meine Rechte, für jemanden, der meinen Platz im Bus nötiger braucht als ich, für meinen Kaffee am Morgen.Bald füllen die Gespräche zwischen Zuschauer*innen und Kompliz*innen den Bühnenraum. Ein kollektives Nachdenken über ein eigentlich leicht zugängliches Thema beginnt. Die weite(re) Dimension entfaltet sich erst nach und nach.

Kitsch und Krawall

Als Pfundtner übernimmt, treibt sie die Fragestellung ins freundliche Extrem, sie stehe auf „um sieben, Rot, Stille, schöne Musik, Zelten am Stand, Marmorkuchen, Feste, die wir feiern könnten, auf Freundschaft, Hintergrundwissen, Macht, Gewalt, Krawall und auf Wortketten“. Weich, fast fragend bewegt sie sich dazu durch den Raum, dann skandierend und demonstrierend. Schließlich ist sie die Einzige, die aufgestanden ist.

Spielerisch, fast gymnastisch sind ihre Bewegungen, die sie immer wieder unterbricht, um laut über den Zusammenhang von Sitzen, Stehen und Melancholie nachzudenken. Um sich dann wieder ihren tänzerischen Weg durch die Zuschauer, durch das Stuhl-Labyrinth zu bahnen. Rollend, sich drehend.

Ein Ausgangspunkt des Abends ist die Kupferstich-Figur „Melencolia I“ aus dem Jahre 1514, ein sitzender Engel und eines der berühmtesten und rätselvollsten Werke von Albrecht Dürer. Der Blick der darauf abgebildeten Figur ist nachdenklich und geht in die Ferne, ins Leere.

Gibt es die Melancholie im Zustand des Stehens überhaupt, gibt es sie in der Bewegung? Oder ist dieser schwere Gemütszustand mit dem Sitzen und einem körperlichen Innehalten verbunden? Und ist er im Augenblick des Aufstehens also zu Ende? Zu diesen Fragen forscht die Tänzerin und Choreografin, sucht laut denkend nach Antworten, projiziert Fotos von Klappstühlen, tanzt zur Musik von Henry Purcell, zu Presleys „It’s now or never“ und auch zu prasselndem Regen.

Ihr eindringliches, herrlich absurdes Schlussbild findet Pfundtner, als sie in eine riesige rote Boje klettert, sich darin aufrichtet und minutenlang mit dem Fremdkörper hin- und herpendelt. Jetzt hat Pfundtner das Bild gefunden, das im Stehen und in der Bewegung von Melancholie erzählt. Bis dahin, intensive zwei Stunden lang, arbeitet sie mit ihrem Körper, mit Kitsch, mit Wörtern, mit ihren Gedanken, mit seltsamen Objekten und mit den Zuschauern und erschafft ein berührendes, nahbares, und durch die Einbeziehung des Publikums auch kollektives Solo. Bei dem genau in den Momenten der vermeintlichen Heiterkeit eine tieftraurige Melancholie mitschwingt.

„Sitzen ist eine gute Idee“: Sa, 26. 10., 20 Uhr, Kampnagel

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