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Kotzen für das Vaterland

Unter dem Motto „De-Heimatize it!“ findet der 4. Herbstsalon am Maxim Gorki Theater statt. Marta Górnickas Libretto „Jedem das Seine“ gibt den feministischen Auftakt

Von Nicholas Potter

Der Chor erlebt ein Comeback. Das beweist Marta Górnicka mit ihrer polemischen Komposition „Jedem das Seine“, deren Berliner Premiere den 4. Herbstsalon im Maxim Gorki Theater eröffnet. Alle zwei Jahre lädt das Bollwerk postmigrantischen Theaters zum interdisziplinären Kunstfestival ein. Unter dem diesjährigen Motto „De-Heimatize it!“ setzt das Festival ein künstlerisches Zeichen gegen einen wiederkehrenden Nationalismus und erstarkten Rechtspopulismus.

Für Intendantin Shermin Langhoff sei Heimat immer auch „Vaterland“ und als Konzept untrennbar mit dem Patriarchat verbunden, wie es im Festival-Editorial heißt. Der Begriff schließe Menschen aus, mache sie zu „Anderen“. Darauf antwortet das Gorki mit einem dreiwöchigen Programm intersektionaler Kunst und einem dezidiert feministischen Fokus.

Anstelle einer Eröffnungsrede lässt Langhoff den Herbstsalon mit einer Intervention im Theatersaal beginnen: Auf der Bühne sitzen die vier „Women for Rojava“ (Bilgin Ayata, Heja Netirk, Hito Steyerl und Anina Jendreyko) und lesen Zeugenberichte aus dem kurdischen Gebiet in Nordsyrien. Ihre Forderungen: ein Ende des EU-Deals, keine Partnerschaft mit Erdoğan und ein Waffenexportstopp in die Türkei. Die Aktion ist sinnbildlich für den Ansatz des Festivals selbst, das den „Anderen“ – aber vor allem Frauen – eine Stimme gibt. Das macht auch ein Rundgang der Festival-Ausstellung im benachbarten Palais am Festungsgraben deutlich.

Und so ist es eben auch mit Górnickas Theaterchor. Mit verwuschelten Haaren dirigiert die polnische Regisseurin in „Jedem das Seine“ aus dem Publikum heraus auf einem Sitz in der zehnten Reihe stehend. Wilde, energetische Handbewegungen leiten ihren 23-köpfigen Bühnenchor. Die Mienen der Schauspieler*innen werden mitgeführt und schwanken zwischen ironischem Lächeln und ausdruckslosem Pokerface. Mal flüstert Górnicka aus den Zuschauerreihen, mal singt sie mit, ihre Beine stampfend im Takt des Stücks, das wie eine rhythmische Maschine wirkt, aus dessen teils unisono, teils synkopierter Masse einzelne Stimmen herausragen und sich wieder in eine Kakophonie von Stimmen zurückziehen. Górnicka weist damit auf die politischen Dimensionen der Sprache hin und erfindet die Rolle der kollektiven Masse neu. Die Stimme sei für sie das mächtigste Instrument im Theater, wie es in Interviews zu lesen ist – eine Stimme, die Górnicka Schauspieler*innen sowie Laien mit unterschiedlichem Hintergrund und Alter gibt.

Zu Beginn des Stücks wird der Titel in Versalien auf die Bühne projiziert: JEDEM DAS SEINE. Auf den ersten Blick wirkt das wie eine kalkulierte Provokation. Der Spruch ist seit der Antike eine philosophische Theorie der Verteilungsgerechtigkeit, doch in Deutschland prägt sein zynischer Missbrauch durch die Nazis in eisernen Buchstaben am Tor des KZ Buchenwald für immer das kollektiven Gedächtnis. Der Titel eröffnet allerdings etwas, das im Laufe des Chorstücks unzureichend Relevanz findet. Seine Fassung deutet auf das Lagerbordell im KZ Dachau hin, allerdings nur nebenbei, damit geht dieser Bezug in der Performance, die mit einer Vielzahl von popkulturellen Referenzen und politischen Assoziationen ausgestattet ist, unter.

Stattdessen fokussiert das Stück, das im Titel die Ergänzung „Ein Manifest“ trägt, auf die kapitalistische Verwertungslogik des weiblichen Körpers auf einem zunehmend technologisierten Fleischmarkt. Górnicka bedient sich dafür zahlreicher Manifeste, wie Valerie Solanas‘ „SCUM Manifesto“, dem „Manifest der futuristischen Frau“ oder dem New Yorker „Me Too Manifest“, wie sie zu Beginn der Performance aufgezählt werden. Die Liste liest sich zwar wie eine Bibliografie des zeitgenössischen Feminismus, doch theoriebeladen wirkt der 45-minütige Theaterabend nicht. Stattdessen werden diese Manifeste auf polemische Parolen reduziert – wie „Die Antwort lautet alles plattmachen!“ oder „Wir kotzen für unser Vaterland“.

Górnickas Thesen werden aber auch in unterhaltsamen Szenen umgesetzt. So lernen wir Harmony kennen, den ersten Sexroboter der Welt mit künstlicher Intelligenz. „Zur Auswahl stehen fünfzig verschiedene Brustwarzen“ stottert der Chor in einer defekten, sich wiederholenden Robotersprache. Oder wir begegnen „The Donald“, einer barbusigen Darstellerin mit blonder Trump-Perücke, die die frauenverachtende, selbstverliebte, aber vor allem unsinnige Rhetorik des US-Präsidenten auf die Spitze treibt. Solche Momente verraten aber wenig Neues. Górnicka geht einem antifeministischen Rechtsruck und sexistischen technologischen Entwicklungen nicht auf den Grund, sondern bringt lediglich ihre wohlbekannten Symptome zum Ausdruck.

Górnickas These, dass das Patriarchat Frauen zu „Anderen“ mache, ist hier dennoch richtig. Mit „Jedem das Seine“ schließt sie den assoziativen Kreis, den das Motto des diesjährigen Herbstsalons „De-Heimatize it!“ eröffnet. Und trotz einiger inhaltlicher Schwächen sorgt ihre stilistische Innovation für einen starken Festival-Auftakt.

Bis 17. November: www.berliner-herbstsalon.de

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