„Im White Cube kommt man gleich auf den Punkt“

Latifa Echakhch hat in Mainz aus dem Freiheitsbaum eine ortsspezifische Installation gemacht. Ein Gespräch über symbolträchtige Gewächse und die befreiende Wirkung des öffentlichen Ausstellungsraums

Recherchierte zur Mainzer Republik von 1793: Latifa Echakhch Foto: Annik Wetter

Interview Katharina J. Cichosch

taz: Frau Echakhch, Sie nehmen gern Gefühlszustände und Materialien zum Ausgangspunkt Ihrer Installa­tio­nen. Wie sind Sie zum „Freiheitsbaum“ gekommen, den Sie jetzt in Mainz zitieren?

Latifa Echakhch: Eigentlich ganz naiv: Es war Herbst, die Blätter fielen auf den ­Boden … So kam ich zum Thema Baum. Ursprünglich dachte ich an eine Eiche, aber dann sollte es ein bisschen ortsspezifischer werden. Beim Googeln bin ich dann auf die Mainzer Republik gestoßen und darauf, wie diese mit der Französischen Revolution verbunden war. Diese Geschichte war mir völlig unbekannt.

Die Mainzer Republik, das erste bürgerlich demokratische Staatswesen auf deutschem Boden, hatte von März bis Juli 1793 Bestand, der Freiheitsbaum war ihr Symbol. Wie genau haben Sie sich am historischen Vorbild orientiert?

Sehr exakt, es gibt viele historische Zeichnungen. Die Schwarzpappel war beliebt, weil sie ein sehr effektiver Baum ist: Leicht zu pflanzen, wächst sie schnell, aber nur vertikal. Und dann die Ornamente, die Bänder, die um die jungen Gewächse herumgewickelt werden. Manchmal sah der Baum nur noch wie ein überdekorierter Zweig aus. Ich mag diese Idee des jungen, dünnen Bäumchens, das die Hoffnung einer großen Zukunft in sich trägt, die dann plötzlich wieder verschwindet (lacht).

Als ich die Ausstellung besucht habe, war eine Besuchergruppe vor Ort: Viel Begeisterung, aber niemand sprach vom Niedergang der Mainzer Republik, sondern vom Maibaum, der ähnlich ausschaut. Wie wichtig ist Ihnen dieser spezifische Kontext?

Wir dürfen nicht vergessen, dass wir es mit einer beliebten Form zu tun haben: Die farbenfrohen Bänder, die auch im Modedesign aufgegriffen werden und im Karneval, die Geschichte vom Maibaum und dann der Baum selbst, der unter Aspekten wie globale Erwärmung, Natur versus Kultur betrachtet werden kann. Ein paar Anhaltspunkte gebe ich mit, aber kontrollieren kann und möchte ich nicht, was die Ausstellungsbesucher und -besucherinnen davon mitnehmen. Jeder hat einen anderen Zugang. In den achtziger Jahren hätte man vielleicht noch ans Waldsterben gedacht. Das macht die Form eines Objekts aus: Sein historischer Kontext ändert sich immer wieder. Ich habe die Bäume dekoriert, nun lasse ich sie vor sich hin trocknen und gebe ihnen einen Titel.

Apropos Objekt: Oft scheint Ihre Kunst darauf zu verweisen, wie sehr das, was wir gern Kultur nennen, vor allem mit unserem Verhältnis zu den Dingen und Gegenständen zu tun hat …

Das stimmt, diese Erfahrung hat mich tief geprägt: die Merkwürdigkeit zu fühlen, die bestimmte unbekannte Gesten, Ereignisse oder Objekte in einem auslösen. Es hängt stark zusammen mit dem Moment, in dem ich als kleines Kind mit drei, vier Jahren in Frankreich ankam. Meine Familie kam aus einem Dorf in Marokko, ich war ein richtiges Dorfmädchen. All die Dinge in den Geschäften, in der Schule, in der Stadt, das alles war so fremd für mich …

In Texten über Ihre Kunst wird oft auf Ihre Einwanderungsgeschichte verwiesen. Natürlich lassen sich immer biografische Brücken schlagen – aber die Frage ist, ob das, was für die Kunstproduktion eine Rolle spielt, auch im Sprechen darüber immer wieder eine spielen muss. Wie stehen Sie dazu?

Ich bewahre mir dieses beschriebene Gefühl der Distanz. Es stimmt, dass ich das für meine Kunst nutze. Wenn jemand meine Arbeiten unter diesem Aspekt wahrnimmt, ist das in Ordnung. Aber wenn ich selbst in diese mystische Box der Migrantin gepackt werden soll, dann ist das nicht mehr ganz so einfach. Ich bin weder wirklich marokkanisch noch französisch. Meine Arabischkenntnisse sind nicht sehr ausgeprägt. Manchmal werde ich als „Mischung aus zwei Kulturen“ beschrieben, aber auch das stimmt nicht. Ich habe wirklich nichts eigentlich (lacht).

Latifa Echakhch

Latifa Echakhch, geboren 1974 in El Khnansa (Marokko), aufgewachsen in Frankreich, lebt und arbeitet in der Schweiz. Sie ist bekannt für ihre ortsspezifischen Installationen. In Mainz hat sie nun den Freiheitsbaum zum Ausgangspunkt einer Arbeit genommen. 2013 hat Latifa Echakhch den Marcel Duchamp Prize der Association for the International Diffusion of French Art und des Centre Pompidou gewonnen. Ihre Ausstellung „Freiheit und Baum“ in der Kunsthalle Mainz läuft bis 10. November.

Klingt nach einem guten Ausgangspunkt, ist aber vermutlich für viele Menschen schwer zu begreifen, oder?

Ich erinnere mich gut an meine erste Einzelausstellung, als ich gefragt wurde, warum ich denn sooo gut Französisch spreche. Und welches Thema möchten fremde Menschen immer noch am liebsten mit mir besprechen? Urlaub in Marokko! „Oh, ich liebe dein Land!“ Dabei kennen es die meisten besser als ich. Ich möchte ja gern länger hin, denn die spezifisch marokkanischen Dinge, die Wasserbecher der Straßenverkäufer, das alles zieht mich an. Die Frage von Identität interessiert mich heute allerdings nicht mehr. Als ich jünger war, habe ich noch eher damit gehadert. Heute mag ich es, dass meine Heimat nur mein Haus ist, nicht ein Land. Heimatliche Gefühle verbinde ich vielleicht noch mit Landschaften …

Sie beschäftigen sich gern mit botanischen Zusammenhängen. Bisher gibt es allerdings noch keine Kunst unter freiem Himmel von Ihnen. Ergab sich noch keine Gelegenheit, oder schätzen Sie einfach den White Cube?

Ich liebe den Ausstellungsraum wirklich! Ich bin da sehr akademisch: Er gibt einen ganz konkreten Rahmen vor, wie das Format eines Buchs, die Schallplatte in der Musik. Innerhalb dieses Formats habe ich totale Freiheit. Viele Menschen teilen die Vorstellung, dass alles, was im White Cube zu sehen ist, Kunst ist. Das gefällt mir! Wenn ich draußen ausstelle, dann hängt da eine ganze Reihe an Fragen dran: Ist das hier Kunst oder Design? Landschaftsgestaltung oder Architektur? Welcher Part zählt zum Werk? Es ist viel mehr Kontext nötig, um all diese Fragen zu klären. Im White Cube kommt man gleich auf den Punkt.