berliner szenen
: Giraffe müsste man sein

Immer, wenn es Herbst wird, muss ich Holunderbeeren einkochen. Das liegt wohl an meiner dörflichen Herkunft. Anders als Äpfel oder Pflaumen, die es ja in jedem Supermarkt gibt, kann man Holunderbeeren aber nicht kaufen, sondern muss sie selber pflücken. Das ist in Berlin gar nicht so einfach.

Mein Weg zur Arbeit führt an der Panke entlang. An dem Weddinger Abschnitt des Radweges wachsen zahlreiche Holundersträucher. Perfekt. Allerdings geht es auch nie ohne Kontakt zu Anwohnern ab. Die häufigste Frage ist ein irritiertes „Was pflücken Sie denn da?“ (Na, Holunder) Dicht gefolgt von: „Das steht aber unter Naturschutz, oder?“ (Tut es nicht). Kinder fragen oft, ob man die Beeren auch so essen kann. (Nein, auf keinen Fall, sie sind brechreizfördernd!)

Dieser Sommer war so heiß, dass viele der Sträucher vertrocknet sind, ein paar beerenreiche gab es dennoch. Kurz vor der Chausseestraße stand der allerbeste, hoch und dichtbewachsen. Ich hatte gerade mein Rad abgestellt und die ersten Beeren abgeschnitten, als plötzlich eine tiefe Frauenstimme mit starkem Berliner Einschlag hinter mir sagte: „Oh, det is Holunder, wa?“ Ich drehte mich erschrocken um. Die Frau war um die fünfzig und trug eine schwarze Lederjacke. Höflich entschuldigte sie sich dafür, mich erschreckt zu haben, blieb aber stehen. Sie roch stark nach Zigaretten. „Die besten sind da weiter oben“, sagte sie. „Da kommen Se nicht dran. Warten Se mal, ick bin ja größer.“ Als sie sich streckte und beherzt die großen Beerendolden von den oberen Zweigen abschnitt, sah ich ihre stark tätowierten Arme. Sie arbeitete schnell und meine mitgebrachte Plastiktüte füllte sich entsprechend. „So, jetzt lass ick Sie mal alleene“, sagte sie zum Abschied und warf noch mal einen Blick auf den hohen Strauch. „Die besten hängen immer oben, wa? Giraffe müsste man sein!“

Gaby Coldewey