: Deutung und Fehldeutung
Wie kommt es, dass der Autor Walter Benjamin heute so populär ist wie nie zuvor? Dem ging eine Diskussion im Literaturhaus im Brecht-Forum nach
Von Jan Jekal
Mit Walter Benjamin kann man sich gut schmücken. Der 1940 gestorbene Philosoph und Kulturkritiker war mehr Essayist als Systematiker, war Feuilletonist und Flaneur, schrieb in Fragmenten und Aphorismen. Sich mit ihm zu beschäftigen heißt, sich mit einem aufregenden, undogmatischen Denker zu beschäftigen, und vielleicht, so hoffen wohl einige, sieht die eigene akademische Arbeit mit einem „Benjamin“ im Titel gleich selbst ein wenig aufregender aus.
Die Benutzung von Walter Benjamin als akademisches Accessoire wurde am Dienstagabend im Literaturhaus im Brecht-Forum unter dem Titel „Fetisch Walter Benjamin“ diskutiert. Wie kommt es, dass Benjamin heute so populär ist wie nie zuvor? Wie kann es sein, dass er in so vielen Geisteswissenschaften so vielseitig rezipiert wird und völlig gegensätzliche Thesen mit Verweisen auf ihn begründet werden?
„Man glaubt, mit Walter Benjamin die Möglichkeit zu haben, kritisch sein zu können, ohne sich positionieren zu müssen“, sagte Nicolas Tzanakis Papadakis, der mit Frank Voigt gerade einen Benjamin-Sammelband herausgegeben hat. Die beiden diskutierten mit Lotte List, die dem Buch einen Aufsatz beigesteuert hat, und Moderator Ingar Solty. Sie traten nicht als Benjamin-Skeptiker auf, im Gegenteil: Es wurde oftmals im Laufe des Abends deutlich, wie sehr sie ihn schätzen und dass sich ihre Sorge darüber, dass Benjamin mitunter unfairerweise vereinnahmt wird, auch aus dieser Zuneigung für ihn speist. List sprach sogar von einer „Textmagie“, die Benjamins fragmentierter Stil entfalte, dadurch, dass die Bedeutung selten direkt in den Zeilen zu finden sei, sondern erst im Verhältnis verschiedener Textstücke zueinander entstehe.
Tzanakis Papadakis nannte Benjamins Aufsatz „Zur Kritik der Gewalt“ als Fallbeispiel für einen fehlinterpretierten Text. Dass dieser 1921 veröffentlichte, „rechtstheoretisch nicht so bahnbrechende“ Text viele Jahrzehnte später von dem französischen Philosophen Jacques Derrida überhaupt wieder aufgegriffen wurde, liege daran, dass man mit Benjamin hier ohne gesellschaftskritische Grundlage Rechtskritik üben könne; Kritik ohne Positionierung eben. Voigt wies bereits am Anfang der Diskussion darauf hin, dass die Vorstellung von Benjamin als „vollendeter Nonkonformist“, der stets zwischen zwei Stühlen sitzt, für alle möglichen Fehldeutungen praktisch sei.
Gleichzeitig sei die Mehrdeutigkeit durchaus auch in Benjamins Texten selbst angelegt. Sein apodiktischer Stil, die wie Bibelverse formulierten Gedanken strahlten eine Anziehungskraft aus und würden zum entkontextualisierten Zitieren geradezu einladen. Benjamin behauptete lieber, als dass er begründete, wurde an einem Punkt gesagt, zudem stellte er nicht selten im selben Text gegensätzliche Thesen nebeneinander.
List schlug noch einen biografischen Erklärungsansatz für Benjamins ungebrochene Popularität vor. Es gebe auch eine Fetischisierung seines Todes: Der Jude Benjamin, der sich auf der Flucht vor den Nazis das Leben nahm, wäre von der Linken auch als Märtyrer vereinnahmt worden, aus dessen Nachlass sie das große Werk der Kritischen Theorie zu konstruieren versucht habe.
Nach der Diskussion gab es eine Fragerunde, und wie das bei intellektuellen Veranstaltungen so ist, begannen die Wortmeldungen aus dem Publikum dann in der Regel mit dem deprimierenden Satz „Ich habe eher eine Anmerkung als eine Frage“. Diese Anmerkungen nahmen nicht selten die Form von mäandernden Monologen an mit autobiografischen Exkursen und reichlich Namedropping. Die Existenz eines „Fetischs Benjamin“ wurde noch einmal nachdrücklich bestätigt.
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