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Und manches ist versunken

Die Regisseurin Lynne Ramsay, die als Fotografin begann, lässt Motive immer wiederkehren. Die Filme der Schottin flechten sich sichtlich ineinander

Von Carolin Weidner

„Manchmal weiß man nicht, woher die Dinge kommen“, sagt Lynne Ramsay in einem aktuellen Interview. Gemeint ist die Eröffnungsszene ihres Films „Ratcatcher“ (1999), in der sich ein Junge in einen Vorhang wickelt, sich in ihm dreht und windet, und es einerseits aussieht wie ein Spiel, dann aber auch ziemlich ernst. Ein sehr selbstvergessener Taumel, in den man für kurze Sekunden hineingezogen wird, bis eine Schelte das Treiben unterbricht. Der Moment erinnert außerdem an Joaquin Phoenix in Ramsays jüngsten Film „You Were Never Really Here“ (2017), in dem man Phoenix als Auftragskiller Joe wiederholt unter einer Plastiktüte antrifft, in die er atmet.

Ramsays filmisches Werk, das seine Ursprünge in der Fotografie hat und verhältnismäßig überschaubar ist, ist komplex und trotzdem prägnant. Prägnant, weil sich die Lang- und Kurzfilme der Schottin sichtlich ineinander flechten, selbst wenn sich die letzten Arbeiten allein aufgrund von Produktionsland (USA) und Besetzung (Phoenix, Tilda Swinton) vom einst gezeigten britischen Working-Class-Milieu unterscheiden. Wie eindrücklich insbesondere letzte Auseinandersetzung jedoch ausfällt, geht aus der Werkschau im Arsenal (12.–23. 10.) hervor. Bereits in Lynne Ramsays „Small Deaths“ (1996) kann man in das Leben des Mädchens (und späteren jungen Frau) Marie Anne einsteigen, das seine Eltern wie hinter einer Glasscheibe beobachtet, von einer Natur träumt, die als Gegenthese zum beengten Hausen und deutlich vernehmbaren Mief dient und das dennoch bald wieder eingeholt wird von den piesackenden und irgendwie kleingeistigen Scherzen ihrer Altersgenossen, die sich mit Marie Anne einen gemeinen „Joke“ erlauben.

Die Motive von „Small Deaths“ schimmern dann vielleicht auch am stärksten wieder in „Ratcatcher“ auf, in dem alltägliches Unbehagen schon allein dadurch auf die Spitze getrieben wird, dass sich aus dem Hintergrund die Auswirkungen einer streikenden Müllabfuhr in das Bild schieben: sich auftürmende Müllsäcke, umherlaufende Ratten und eine Art Kanal, der irgendwann so kontaminiert scheint, das alle, die in ihn tauchen, mit Ekzemen aus ihm steigen. Der Kanal ist für den zwölfjährigen James, Hauptfigur von „Ratcatcher“, ein Gewässer von zentraler Bedeutung. Er ist von ihm angezogen, denn hier versinkt manches, das nicht mehr zurückzuholen ist (ein Junge ertrinkt gleich zu Beginn des Films im Wasser und James’ Zutun spielt eine wesentliche Rolle dabei), es befinden sich Gegenstände an seinem Grund, die zu holen wären, aber etwas sperrt sich in einem dagegen (die Brille eines älteren Mädchens, mit der James eine vorpubertäre Liebesbeziehung eingeht) und es schwimmen Tiere in ihm, die sich eventuell fangen ließen, aber nie geht eines ins Netz. Für Lynne Ramsay hat das Wasser mehrere Bedeutungsebenen, vor allem aber ist es ein Speicher von Vergangenheit. In „Swimmer“, einem Kurzfilm, den sie 2012 für die Olympischen Spiele in London entwickelte, durchlebt ein Schwimmer auf einer unwahrscheinlichen Route verschiedenste angedeutete Szenarien. In einem wird er von mit Pfeil und Bogen bewaffneten Kindern beschossen. Fliegende Pfeile konnte man ebenso ein Jahr zuvor in „We Need to Talk About Kevin“ sehen – mit ihnen tötet der Teenager Kevin Teile seiner Familie. „Swimmer“ verlinkt aber nicht nur visuell Lynne Ramsays bevorzugte Landschaften und Themenfelder (apropos Feld: auch das ein von ihr häufig aufgegriffenes Symbol von Weite und Freiheit, insbesondere in den Augen von Kindern).

Es handelt sich zudem um eine Produktion von Warp Films, einem Zweig des gleichnamigen Musiklabels Warp Records, das sich schon 2002 für den Soundtrack von Ramsays sehr sehens- und hörenswerten Spielfilm „Morvern Callar“ zuständig zeichnete. Neben der Leiche ihres Freundes findet Morvern, eine Supermarktangestellte in ihren frühen Zwanzigern, nämlich eine Kassette mit der Aufschrift „Music for You“. Offenbar eine Hinterlassenschaft an Morvern, die, so macht der Film glauben, zum Mix eines neuen Lebens wird. Erinnerungsfetzen aus dem alten – „Everything You Do is a Balloon“ von Boards of Canada und „Some Velvet Morning“ von Nancy Sinatra und Lee Hazlewood – fallen in diese Kategorie. Während etwa Holger Czukays „Cool in the Pool“ (wieder das Wasser) von Neuanfängen kündet. „Heute Morgen bin ich schwimmen gegangen. Es tat gut, sich über nichts Gedanken machen zu müssen und einfach dorthin zu driften, wo möglicherweise Ideen warten“, geht das Interview übrigens weiter. „Man muss die Augen offen behalten.“

Werkschau Lynne Ramsay im Kino Arsenal, sieben Termine vom 12. 10. bis 23. 10.

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