Trauma und Transición

Das Filmfestival im spanisch-baskischen San Sebastián war mit den hiesigen Produktionen politisch wie lange nicht – Symptom einer zerrissenen Gesellschaft, samt Fernwirkungen der Franco-Diktatur

Szene aus „La Inocencia (Die Unschuld)“ Foto: Filmfestival San Sebastián

Von Thomas Abeltshauser

Im Jahr 1969 tritt Higinio (Antonio de la Torre) in seinem andalusischen Dorf vor die Tür und blinzelt vorsichtig in die Sonne. 33 Jahre hatte sich der linke Aktivist in seinem Haus vor den Schergen Francos versteckt, seit dem Beginn des Spanischen Bürgerkriegs und der anschließenden Schreckensherrschaft, schlief wie ein Maulwurf in einem Verschlag zunächst unter dem Fußboden, später hinter einer Wand. Nur wenn er und seine Frau Rosa (Belén Cuesta) sich in Sicherheit wähnten, bewegte er sich in seinem abgedunkelten Haus, nach draußen wagte er sich nicht. Nun hört er im Radio von der Amnestie für politisch Verfolgte und traut sich schließlich ins Freie. Und es passiert: nichts. Niemand schert sich um den unscheinbaren, älteren Mann. „La trinchera infinita (Der unendliche Graben)“ war einer der Höhepunkte des Internationalen Filmfestivals im baskischen San Sebastián, dessen 67. Ausgabe am Samstagabend zu Ende ging und dessen spanische Produktionen politisch wie lange nicht waren.

Das Drama des Regietrios Aitor Arregi, Jon Garaño und Jose Mari Goenaga verhandelt die Auswirkungen des Franco-Regimes als klaustrophobes Kammerspiel, in dem der Terror vor allem psychologisch ist. Das Dreamteam des baskischen Kinos, das mit „Loreak (Blumen)“ und „Handia (Der Riese)“ in den letzten Jahren das Baskenland im Norden Spaniens fast im Alleingang zur eigenständigen Filmregion machten und seinen neuen Film nun erstmals außerhalb ihrer Heimat ansiedelt, ist der große Gewinner dieses Jahrgangs. „Der unendliche Graben“ wurde als bester baskischer Film ausgezeichnet und erhielt den Filmkritikerpreis; das Trio wurde für das Drehbuch und die Regie prämiert.

Mit Alejandro Amenabár setzt sich auch einer der renommiertesten Filmemacher des Landes mit den Schatten der Vergangenheit auseinander. „Mientras dure guerra (Solange der Krieg dauert)“ erzählt von der zerrissenen spanischen Gesellschaft der 1930er Jahre zwischen linken Republikanern und dem Erstarken des rechten Franquismus aus der Sicht des alternden Philosophen und Schriftstellers Miguel de Unamuno (Karra Elejalde), der zunehmend hilflos ansehen muss, wie sein Land vor die Hunde geht. So gelingt eine in weiten Teilen zwar differenzierte Auseinandersetzung mit dem kollektiven Trauma, bleibt dabei aber arg konventionell und zu verzagt.

Man spürt, die Wahlen kommen

Beide Filme machen jedoch trotz historischer Verortung keinen Hehl aus ihren aktuellen Bezügen und treffen damit den Nerv einer verunsicherten und gespaltenen spanischen Gesellschaft auf der Suche nach einem neuen Selbstverständnis: Der Bürgerkrieg und das anschließende Franco-Regime sind auch über vier Jahrzehnte nach dem Tod des Diktators noch lange nicht aufgearbeitet. Der friedliche Wandel zur Demokratie, die Transición, beruht vor allem auf Verdrängung und Stillschweigen über die Gräueltaten. Doch in den vergangenen Jahren werden immer mehr Massengräber geöffnet, gerade hat das Oberste Gericht die Exhumierung der Überreste Francos bewilligt, um den monumentalen Begräbnisort von einer rechten Pilgerstätte zu einem Mahnmal für die Opfer des Bürgerkriegs und der Diktatur umzuwidmen.

Wirtschaftlich geht es dem Land besser als zur Hochphase der Krise vor einigen Jahren, doch unter der Oberfläche brodelt es. Nach der Wahl im April und der gescheiterten Regierungsbildung stehen am 10. November erneut Parlamentswahlen an; die rechtsextreme Vox-Partei könnte weiter zulegen. In Katalonien radikalisieren sich die Separatisten weiter. Und in San Sebastián nutzen während des Festivals politische Aktivisten unterschiedlicher Lager die öffentliche Aufmerksamkeit, fast täglich gibt es Demonstrationen. Die Stimmung ist aufgeheizt.

Dieses Dreamteamhat das Baskenland fast im Alleingangzur eigenständigen Filmregion gemacht

Das ist auch bei den Debütfilmen zweier Filmemacherinnen zu spüren, die sich mit sehr aktuellen und akuten Themen um soziale Ungerechtigkeit auseinandersetzen und damit den Widerstandsgeist ihrer jungen Protagonistinnen feiern. In „La Inocencia (Die Unschuld)“ der 1985 geborenen Lucía Alemany träumt ein Teenager-Mädchen aus der Arbeiterklasse davon, in eine Zirkusschule zu gehen, gegen den Willen ihres autoritären Vaters, der auch von ihrer ungewollten Schwangerschaft nichts erfahren darf.

Sara in Belén Funes’ „La hija de ladrón (Die Tochter des Diebes)“ ist mit 22 nur ein paar Jahre älter, auch sie stammt aus einfachen Verhältnissen, schlägt sich mit Nebenjobs durch, um ihr Baby zu ernähren, und versucht, das Sorgerecht für ihren kleinen Bruder zu bekommen, nachdem ihr Vater aus dem Knast entlassen wurde. Beide Spielfilme sind auf Augenhöhe mit ihren Figuren und zeigen authentisch die prekäre Lebensrealität der jungen Generation, empathisch und ohne predigenden Gestus. Relevantes, aufregendes Kino der Gegenwart.

Daneben drängen auch in San Sebastián die Streamingdienste ins Programm, wollen das Festival als Plattform nutzen. Netflix schafft es mit „Diecisiete (Siebzehn)“ gar in den Wettbewerb, wenn auch außer Konkurrenz. Das tragikomische Roadmovie über zwei ungleiche Brüder war während der neun Tage kaum zu übersehen: das Filmplakat vor dem rotem Teppich des Festivalzentrums nahm mehr als die Hälfte des Straßenzuges ein. Der Film von Daniel Sánchez Arévalo selbst enttäuscht dafür umso mehr als zuckriges Wohlfühlkino mit aufgesagten Lebensweisheiten. Vielversprechender erscheinen da die ersten Ausschnitte der achtteiligen HBO-Serie „Patria“ nach dem gleichnamigen Bestseller von Fernando Aramburu über zwei baskische Familien, die durch den ETA-Terror der achtziger Jahre entzweit werden. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte ist noch lange nicht zu Ende.