Blueprint der Veränderung

Die Architektur-Biennale und eine Kunstmesse in Chicago nehmen die Stadt und ihren notwendigen Wandel in den Blick. Bei beiden ist Theaster Gates wichtiger Protagonist

Im Chicago Cultural Center, 1897 als Bibliothek gebaut, findet die Architektur-Biennale Chicago statt Foto: Francis Son

Von Lorina Speder

Die berühmten Zwillingstürme von Marina City aus dem Jahr 1963 sind aus Chicago nicht wegzudenken. Mit den zwei identisch aussehenden maiskolbenartigen Gebäuden stellte Architekt Bertrand Goldberg ein neuartiges Wohnkonzept vor. Als „city within a city“ konnte man Marina City bewohnen und sollte nichts vermissen – ein Theater, Büros, eine Wäscherei, Parkhaus, Bootssteg und Grünanlagen inklusive.

Die Bezeichnung „city within a city“ hört man in Chicago auch heute noch an jeder Ecke. Die 77 Bezirke der Stadt sind so divers, dass sie für Kuratorin Sepake Angiama kleinen Städten gleichen. Grund genug, die dritte Architektur-Biennale nach diesen vielen Nachbarschaften auszurichten und mit Künstlerpositionen aus der ganzen Welt zu verbinden. Eine Ausstellung über die Prachtbauten von Chicago wollte Angiama bei der Biennale mit dem Titel „… and other such stories“ ausdrücklich vermeiden.

Verborgene Geschichten

Das hat seine Berechtigung. Denn die vielen Bezirke der Stadt erzählen Geschichten, die sich im Verborgenen abspielen. Von der Politik oft ignoriert, finden sie durch die Biennale endlich eine Stimme. „Viele Communities wurden zu lange allein gelassen und in sozialen Projekten ausgelassen“, sagt Angiama im Gespräch und erklärt: „Das Teilhaben ist in Zeiten der nicht endenden Krise wichtiger denn je.“ Mit diesem pädagogischen Ansatz rückt sie die Historie dieser urbanen Situation in den Fokus. Als sie das erste Mal nach Chicago kam, war ihre Verwunderung groß: „Viele denken einfach nicht zurück“, sagt sie mit hochgezogenen Augenbrauen. So wird das Wissen über die indigenen Völker in den USA nicht in der Schule gelehrt und Schüler können sich nicht damit identifizieren. Dabei stellen die Nachfahren der indigenen Ureinwohner heute eine große Bevölkerungsgruppe in Chicago. Deshalb beschloss sie mit dem KuratorInnen-Team, in der gesamten Ausstellungsarchitektur historische Informationen zu installieren. So erfährt man viel über den Bürgerkrieg und seinen Einfluss auf die indigenen Völker. Auf einer anderen Etage ist ein Land Acknowledgement (Statement der Anerkennung und des Respekts gegenüber den indigenen Gruppen) installiert, das die einheimischen Stämme der Odawa, Ojibwe und Potawatomi thematisiert.

Als Sprachrohr aus über 40 anderen eingeladenen „Stimmen“ fungiert der Künstler Theaster Gates. Nachdem er dieses Jahr im Berliner Gropius Bau eine Fotografie-Ausstellung kuratierte und im Pariser Palais de Tokyo durch skulpturale Werke afroamerikanische Identitäten hinterfragte, widmet er sich mit seinem Beitrag über die South-Shore-Neighbourhood auf der Architektur-Biennale im Cultural Center wieder seiner Heimatstadt.

Sichtbarkeit der Community

Als der Friseur Harith Augustus durch Polizeigewalt letztes Jahr ums Leben kam, war die schwarze Nachbarschaft im Süden der Stadt weltweit in den Medien. Im Video von Gates sieht man im Wechsel schwarze Protagonisten, verlassene Gebäude, leere Straßen und flache Wohngebäude. In der dazugehörigen Installation informiert Gates über seine dort angesiedelte Rebuild Foundation. Während der Eröffnungswoche der Biennale und des gleichzeitigen Starts der Expo Chicago lockte Gates mit Aktionen der Founda­tion das internationale Kunstpublikum in Chicagos South Side und machte auf diese Weise die Community und sein Anliegen der kulturellen Entwicklung sichtbar.

In der gesamten Ausstellung sind historische Informationen installiert

Auch auf der Kunstmesse auf dem Navy Pier von Chicago kommt man an Gates nicht vorbei. Mit der ansässigen Galerie Richard Grey arbeitet er seit über 10 Jahren zusammen. Auf den Ständen der Expo Chicago sieht man wie auf der Biennale neben lokalen Künstlerpositionen internationale Positionen. Ob meditative Pinselstriche der Dansaekhwa-Bewegung aus Korea bei der Galerie Tina Kim, Fotografie von Thomas Ruff und Wolfgang Tillmans bei David Zwirner oder das ausdrucksstarke Porträt von dem ghanaischen Maler Amoako Boafo auf dem Stand der Mariane-Ibrahim-Galerie.

Und immer wieder stößt man beim Rundgang über die Messe auf die Türme von Marina City. Das Motiv ist bei dem Publikum und den lokalen Sammlern besonders beliebt. Sei es als Schwarzweißfotografie von Hiroshi Sugimoto bei Marian Goodman, auf der die Struktur der Stockwerke den wolkigen Hintergrund kontrastiert, oder als aus der Leinwand heraustretendes Bildrelief von Martin Spengler auf dem Stand der Berliner Galerie Kornfeld.

Die Geschichte der Wolkenkratzer bis hin zu der offiziellen Bezeichnung als Wahrzeichen der Stadt Chicago im Jahr 2016 liest sich wie ein Blueprint für die Historie vieler Bezirke der Stadt. Nach einer Hochphase wurde der Gebäudekomplex Ende der 80er Jahre zu einem Rattenloch. Nicht einmal 37 Prozent der fast 200 Appartements waren belegt, der gute Ruf des innovativen Konzept war hinüber. Es brauchte jedoch nur einen Investor, der an den Standort glaubte, um Marina Citys Beliebtheit neu zu wecken. Das ähnelt Theaster Gates’ Vision für die Chicago South Side in seiner Videoarbeit – vielleicht ist er derjenige, der den Wandel für die Bezirke im Süden bringt.