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Elektrisch ganz ohne Strom

Großer Auftritt für Helmut Lachenmann beim Musikfest Berlin: François-Xavier Roth glänzt mit seinem Orchester Les Sièclesin der Philharmonie, genau wie die Sopranistin Yuko Kakutaund der Pianist Pierre-Laurent Aimard

Von Tim Caspar Boehme

Die Gegenwart ist eine Zeit der großen Zusammenschau. Im Pop gilt es inzwischen als ganz normal, quer durch die Jahrzehnte zu hören, und immer mehr Musiker halten ihre Einflüsse ähnlich offen. Auch im Klassik-Konzertbetrieb kombiniert man schon mal Musik des 19. mit der des 20. Jahrhunderts. Bestes Beispiel ist das Musikfest Berlin, in dem das Repertoire der Romantik fast systematisch auf das der Moderne trifft.

Dass ein Orchester sein Programm aber bewusst vom Barock bis in die Gegenwart mischt, ist bisher die Ausnahme. „Les Siècles“, 2003 vom französischen Dirigenten François-Xavier Roth gegründet, tut genau das. Und sie spielen die verschiedenen Werke zusätzlich stets auf den passenden historischen Instrumenten. Umso erstaunlicher, dass dieses Ensemble jetzt erst seinen Einstand in der Philharmonie und beim Musikfest Berlin gab, scheint das Orchester doch wie für dieses Festival geschaffen.

Am Sonntag reiste das Orchester mit Roth durch das 18., 19. und 20. Jahrhundert. Angefangen beim Barockkomponisten Jean-Philippe Rameau mit einer Auswahl aus seiner Orchestersuite „Les Indes Galantes“, ein sogenanntes Opéra ballet mit Tanzrhythmen, festlichen Klängen, darunter die des Lauteninstruments Theorbe. Gespielt wurde im Stehen, auf Augenhöhe mit dem Dirigenten.

Für Helmut Lachenmanns „Mouvement (– vor der Erstarrung)“, zwischen 1982 und 1984 entstanden, schalteten Les Siècles dann kurzerhand auf völlig andere Gesten um. Wo zuvor ein durchgehender Puls vorherrschte, meinte man bei Lachenmann zu hören, wie sich die Klänge allmählich zusammenziehen, um dann wieder auseinanderzudriften. Erst geballt als dichter Ensembleklang, dann fast regungslos von lediglich einzelnen Instrumentengruppen auf minimale Perkussisonsklänge reduziert: Lachenmann setzt, trotz großzügigen Schlagzeugs, alle Instrumente gern als Geräuscherzeuger ein.

Von Les Siècles wurde das mit so konzentrierter Spannung geboten, dass man von der Dringlichkeit selbst andauernd unter Hochspannung gesetzt war. Und beim Hören eine Art Paradox erlebte: Denn die „erstarrende“ Bewegung ist in der Musik schließlich nie vollkommen statisch, sie bleibt immer kurz davor, zumindest bis das Stück zu Ende ist. Großer Applaus.

Vor lauter Dringlichkeitwird man selbst andauernd unter Hochspannung gesetzt

Den gab es auch für die Station im 19. Jahrhundert mit Hector Berlioz. Von dem war mit „Harold en Italie“ ein in mehrfacher Hinsicht ungewöhnliches Werk zu erleben. Zunächst ist es eine Sinfonie mit Solo­bratsche, mithin kein Bratschenkonzert, auch wenn die Bratsche Partien spielt, die ebenso in einem Konzert am Platz wären. Bei Berlioz hat das Instrument, am Sonntag überragend von der Solistin Tabea Zimmermann gespielt, jedoch eine andere Funktion. Die vom Orchester isolierte Stimme steht für die Vereinzelung der titelgebenden Figur Harold, von Berlioz in Anlehnung an Lord Byrons Versepos „Childe Harold’s Pilgrimage“ gewählt. Berlioz ist zudem auch selbst gemeint, da er eigene Erfahrungen der Isoliertheit in Italien machen musste. „Harold en Italie“ ist ein von dunkel eingefärbter, oft in­trospektiv gehaltener Mehrstimmigkeit geprägtes Stück. Wilden Ausdruck gestattet sich Berlioz recht selten. Dafür überrascht er durch höchst moderne Einfälle: Eine Passage spielt Zimmermann komplett im Flageolett, das heißt, sie spielt auf den Saiten die Obertöne statt der Grundtöne, was einen schmirgelnd-gurgelnden Effekt hervorruft. Eine Nähe zu Lachenmann war da allemal erkennbar.

Einen Brückenschlag zwischen Romantik und Moderne wagte in der vergangenen Woche auch der französische Pianist Pierre-Laurent Aimard, wieder mit einer Komposition von Helmut Lachenmann, flankiert von Franz Schuberts später Klaviersonate G-Dur. Aimard ist ausgewiesener Experte für das 20. Jahrhundert, im vergangenen Jahr stemmte er beim Musikfest die „Klavierstücke I–XI“ von Karlheinz Stockhausen. Am Donnerstag tat er sich nun mit der Sopranistin Yuko Kakuta zusammen, um Lachenmanns „Got Lost“ aufzuführen, eine „Musik für hohen Sopran und Klavier“, mit Texten von Friedrich Nietzsche, Fernando Pessoa „und einer Annonce“.

Bei Lachenmann ist der Stimmgebrauch erweitert, gesungen wird manchmal in den geöffneten Flügel hinein, oft sind es Atem- oder Zischgeräusche, die von Sängerin wie Pianist beizusteuern sind. Auch hier stand der Notentext regelrecht unter Strom, häufig verbunden mit echter Komik. Sage noch einer, Neue Musik könne nicht unterhalten!

Heute beim Musikfest Berlin: Karajan-Akademie der Berliner Philharmoniker, Leitung Susann Mälkki, Werke von Olga Neuwirth und Gérard Grisey, Kammermusiksaal, 20 Uhr

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