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Gewalt muss auf den Tisch

Vom Buchstäblichen ins Symbolische: Die Kolumbianerin Doris Salcedo erhält den Kunstpreis der Lübecker Possehl-Stiftung und ist nun in einer Schau zu entdecken

Von Ronald Berg

Es ist nur ein Hauch von einem Hemdchen, halb durchsichtig, schimmernd, vorne offen und anschmiegsam aus Seide gefertigt. Aber zum Tragen ist dieses Gebilde nicht gemacht, und man würde es wohl auch keiner Frau empfehlen können, sich diese Tortur anzutun. Denn bei näherer Betrachtung wird erkennbar, dass die Schraffuren innerhalb des Stoffes tatsächlich aus Tausenden von stählernen Nähnadeln bestehen, die in dem Hemd stecken.

Was da also in der Lübecker Kunsthalle St. Annen in mehreren Versionen an der Wand hängt, ist weniger ein Kleidungsstück als ein Sinnbild des Schmerzes und der Verwundung. Was die seit mindestens anderthalb Jahrzehnten international hoch renommierte Künstlerin Doris ­Salcedo hier unter dem Werktitel „Dis­remembered“ („Vergessen“) Gestalt verliehen hat, bezieht sich auf die Opfer von Waffengewalt in den USA. Salcedo hat mit Müttern aus Chicago Interviews geführt, deren Kinder Opfer solcher Schießereien geworden sind. Insbesondere wenn die Opfer selbst Mitglieder von Gangs waren, ist das gesellschaftliche Interesse für solche Opfer und ihre Angehörigen gering. Gerade deshalb wollte Salcedo ihnen mit ihrer Arbeit eine Stimme geben.

Wie in „Disremembered“ kennt Doris Salcedos Kunst eigentlich immer nur dieses eine Thema: Gewalt und deren Opfer. 1958 in Bogotá geboren, ist der permanente Bürgerkrieg in ihrem Heimatland Kolumbien der Hintergrund, ohne den die Kunst von Salcedo wohl kaum verständlich würde. Nirgendwo ist die offene Waffengewalt so gegenwärtig – ob beim Kampf um Vorherrschaft und Teilhabe an der Macht zwischen Regierungsmilizen und Guerilla oder bei den kriminellen Machenschaften der Drogenkartelle.

Aber erstens sind Gewalt und Terror keine exklusive Erscheinung von Kolumbien, und zweitens liefert die Art und Weise, wie Salcedo am speziellen Fall damit umgeht, eine Haltung, wie mit Gewalt im Allgemeinen umgegangen werden kann. Salcedo künstlerische Arbeiten zeigen niemals den Schrecken selbst. Jede (mimetische) Wiederholung wäre für die bis heute in Bogotá lebende Künstlerin nur obszön. Vielmehr ist die Gewalt bei ihr in Hegel’schen Sinne aufgehoben und in die Formen eines Angedenkens überführt. ­Salcedo verschiebt das Buchstäbliche der Gewalt und ihrer Opfer ins Symbolische. Tische, Stühle, die besagten Hemden und einen Teppich aus Rosenblättern zeigt die erste Einzelausstellung der Künstlerin in Deutschland.

Dass ausgerechnet die kleine, auf den Ruinen der St.-Annen-Klosterkirche errichtete Kunsthalle in Lübeck dieses Glück widerfuhr, verdankt sich einer für die alte Hansestadt wichtigen Einrichtung: der Possehl-Stiftung. Schon bisher förderte die inzwischen seit 100 Jahren bestehende, auf den vermögenden Unternehmer und Senator Emil Possehl zurückgehende Stiftung „alles Gute und Schöne“ in und für die Stadt Lübeck. In diesem Jahr wird erstmals auch ein internationaler, mit 25.000 Euro dotierter Kunstpreis vergeben, der eine Ausstellung in der Kunsthalle des Kunstquartiers in St. Annen einschließt.

„Seine Gefühle zur Schau stellen“

Die fünf raumfüllenden Installationen Salcedos in Lübeck wirken auf den ersten Blick sehr minimalistisch und perfektioniert. Salcedo arbeitet tatsächlich sehr präzise und akribisch. In Anbetracht des heiklen Themas muss alles bei Salcedo sehr abgeklärt und formal auf den Punkt gebracht daherkommen. Es geht darum, jeden Anflug von Kitsch zu vermeiden, der das Anliegen Salcedos unterlaufen würde.

Es geht ja nicht allein um Erinnerung und Mahnung, sondern vor allem um Empathie mit den Gewaltopfern. Der riesige, aus Abertausenden von konservierten Rosenblättern zusammengenähte Teppich am Boden der Kunsthalle soll also nicht erschrecken, gleichwohl auch er auf ein grausames Ereignis verweist: das Schicksal einer gekidnappten und zu Tode gefolterten kolumbianischen Krankenschwester. „A Flor de Piel“ als Titel der Arbeit bedeutet so viel wie „seine Gefühle zur Schau stellen“. Hier wird der metaphorische Ausdruck ins Dingliche übersetzt. Der faltige Stoff aus Blumenblättern mischt die positiven Aspekte des Rosensymbols mit einer seltsam befremdenden Fleischlichkeit, verknüpft Zartheit mit Tod.

Und noch etwas: Solch aufwendige Arbeiten wie diese Rosenhaut ist ablesbar Ergebnis von ungeheuer viel Zeit und Arbeit (auch wenn vieles Assistenten erledigen). Dazu kommen noch die Recherchen oder Interviews, die der eigentlichen Arbeit vorausgehen. Mitunter werden sogar die Opfer selbst an der Arbeit beteiligt.

Ohne diese Anstrengung geht es wohl nicht, bis die Transformation von erlittenen Traumata so weit getrieben wird, dass daraus (manchmal auch buchstäblich) große Kunst wird. In sublimierter Form kann das Thema Gewalt dann wieder auf den Tisch kommen. Deshalb die vielen ­Tische auch in der Ausstellung in Lübeck, wo aus den zuvor zerstörten Möbeln in mühevoller Kleinarbeit die alte Form wiedererstanden ist, die Oberflächen allerdings noch völlig vernarbt und die Beine teils ­geborsten. Aber auch ein solcher Tisch steht nach gelungener Heilung wieder auf eigenen Beinen. So kann das ­Leben weitergehen. Und es muss ja trotz aller Beschädigungen.

Bis 3. November. Kunsthalle St. Annen, Lübeck, www.kunsthalle-st-annen.de

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