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Wort-Kämpfer im Villenviertel

Antiker Bogenschütze als abgerockter Altlinker: Zum Saisonauftakt zeigt das Deutsche Theater Göttingen Heiner Müllers wortgewaltiges Antikendrama „Philoktet“

Vogelfüße, Tierkadaver und -skelettfragmente: So sieht die Bühne aus für einen „Leichnam, der sich nährt von seinem Grab“ Foto: Isabel Winarsch

Von Jens Fischer

Wüst und menschenleer soll sie gewesen sein, die Insel Lemnos des verdammten Philoktet. Ausgeschlossen von den Griechen war er, in Heiner Müller Überschreibung des sophokleischen „Philoktet“-Dramas ist der legendäre Bogenschütze gar von der ganzen Menschheit isoliert. Allein unter Tieren. Bei allerdings gleicher Begründung: Seine nach einem Schlangenbiss vor sich hinschwärende Wunde hat die nationalistisch aufgeputschte Kampfesmoral der gen Troja ziehenden Griechen geschwächt, sie ahnten im Verwesungsgestank des offenen Fleisches, was sie im Krieg erwartet: sterben. Also wurde Philoktet auf der einsamen Insel entsorgt und vegetierte dort im Hass auf die Abschiebepolitik vor sich hin.

Sanierungsbedürftig und menschenleer ist das denkmalgeschützte Göttinger Fridtjof-Nansen-Haus seit anderthalb Jahren, 46 Jahre hatte zuvor das Goethe-Institut in dem burgähnlichen Gebäude residiert. Bevor es nun vom Hogrefe-Verlag zur Residenz aufgehübscht wird, darf noch mal das Deutsche Theater hinein. Wie in den beiden Spielzeiten zuvor eröffnet es die neue Saison vor allen anderen norddeutschen Stadt- und Staatstheatern mit einer Außer-Haus-Produktion. In diesem Jahr heinermüllern eben Wort-Kämpfer im Villenviertel.

Der Hausgeist spukt widerständig

Zur vorletzten Jahrhundertwende für den Tuchfabrikanten Ferdinand Levin erbaut, wurde der Gründerzeit-Palast in den 1960er-Jahren um einen schäbigen Wohnheimtrakt ergänzt. Geflüchtete wollten Hausbesetzer dort 2018 unterbringen, Spekulanten als Käufer und Burschenschaftler als Mieter verhindern. Aber schnell trieb die Polizei die Aktivisten wieder hinfort. Parolen wie „Wohnen für alle“ und „Nazi-Hipster jagen“ prangen heute noch als Spraykunst vor dem Anwesen.

In dem jetzt nur noch Hausgeist Philoktet widerständig spukt. Odysseus und Achilles’Sohn Neoptolemos kommen ihn besuchen, um den Exilierten als Freakshow vors Publikum zu locken und seinen unfehlbaren Bogen zu stehlen. Wunderwaffen, aber auch alte Helden braucht das Griechenheer. Denn in der Schlacht um Troja steht es seit zehn Jahren unentschieden.

Solchen Hintergrundinfos lauschen maximal 50 Zuschauer zwischen holzvertäfelten Wänden, unter einem schmiedeeisernen Leuchter. Den Parkettboden zieren Theaterasche, Vogelfüße, Tierkadaver und -skelettfragmente. So sieht er aus, der unabgeräumte Esstisch Philoktets.

Ein „Leichnam, der sich nährt von seinem Grab“, so seine Selbstbeschreibung in der Lemnos-Landschaft des Todes, für die das morbide Ambiente der Nansen-Immobilie ein prachtvolles Bühnenbild abgibt. Irritierend nur die Lichtregie: ständig blinkt ein Scheinwerfer – als feiere ein Leuchtturm seine stoische Arbeitsmoral.

Eindrucksvoller funktioniert die einzig symbolische Aufwallung der ansonsten sprachkonzentrierten Regie von Elias Perrig: Im Kamin, flankiert von freundlich lächelnden Gipslöwen, tropft fortwährend Blut in einen Eimer – eine konzen­trierte Installation zu Müllers Geschichtsfatalismus der gleichgültig voranschreitenden Zeit in einer als Schlachthaus begriffenen Welt, wo sich die Agenten des Fortschritts notwendigerweise mit rotem Lebenssaft besudeln müssen.

Passend dazu spielt die Tontechnik aufgescheuchtes Totenvögelgeflatter ein. Schon hebt das Schauspielertrio an, das Lehrstück als Assoziationen provozierende Versuchsanordnung aus den Perspektiven dreier Generationen zu erzählen. Da ist der alte, einst staatstreue Philoktet, den Müller auch als Gulag-Gefangenen des Stalinismus oder SED-Oppositionellen andeutet, sodass das Stück nicht in der DDR, sondern erst 1968 in München uraufgeführt werden konnte.

Andreas Jeßing gibt den Titelhelden als eine Art abgerockten Altlinken. Mit dem Auftauchen seiner Landsleute wächst in ihm einerseits die Hoffnung, seine Gefängnisinsel wieder verlassen zu können, andererseits aber auch rasende Wut. Als verwahrloster Kulturmensch spuckt er in wohlformulierter Pracht reichlich Gift und Galle, Hohn und Spott. Beschimpft rachelüstern die Hellenen, Inbegriff der Zivilisation, als Mörder und Betrüger, ihre Sprache sei ein Lügenmedium.

Mit Rock und Macho-Stiefeln

Carsten Hentrichs Odysseus ist im Politikeranzug hingegen ein skrupellos schlauer Apparatschik und als leidenschaftsloser Cheflogistiker für das Durchsetzen des angeblich Notwendigen zuständig, wobei Tugend heucheln oder Unwahrheiten verlautbaren die Taktikvarianten seiner Demagogie sind. Trojas Niederschlagung hat für ihn ausschließlich machtpolitische und ökonomische Gründe. Mit den eroberten Reichtümern und Rohstoffen sollen die Griechen ganz neue Luxusdimensionen erleben. Helena ist nur Vorwand für die barbarische Aggression.

Neoptolemos wirkt in der Gestaltung von Moritz Schulze wie ein jugendlich naiver, schwankend loyaler Idealist mit noch undeutlicher Identität. Rock trägt er, fingerlose Handschuhe, kerliges Unterhemd, Führungskräfte-Jackett und Macho-Kampfstiefel. Startet durch als Anhänger der Odysseus-Propaganda, ist bald von Philoktets Leid gerührt, mordet schließlich aber doch für die große vaterländische Sache. Die Protagonisten repräsentieren so ein Gesellschaftsmodell, das sich selbst zerstört, da es nur das Funktionieren duldet.

Das Darstellertrio belauert, becirct, beschimpft, bedroht einander. Nur die Metaphern suchenden, sich ineinander verkantenden Worte sind ihre Waffen – in Form ausgefuchst verletzender, nach antiker Art geschmiedeter Blankverse. Wie häufig bei Heiner Müller haben die Figuren aus ihrer Weltsicht heraus Recht, für ihren Zweck mit den eigenen moralischen Grundsätzen anzutreten. Daher analysiert Perrigs Regie, wie die Verständigung in dialektischen Wechselreden scheitert – dank ideologischer Verhärtung oder waidwunder Psyche. Wobei die Widersprüche, der Konflikt, aber umso deutlicher werden.

Wie Jeßing sich mit kreatürlichen Schmerzensschreien übers Treppenhaus in die Szenerie schleppt, illustriert sofort die Vorgeschichte, die die Kollegen sich und dem Publikum nahe­bringen. Wie Philoktet in weicher, luzider unterfütterter Artikulation mit Vers und Tempo spielt und durch seine Suada führt, ist nervenzerrend beeindruckend.

Alle drei Darsteller erzählen mit kraftvoll ziselierter Sprechkultur das Lesedrama allein aus dem Klang der Worte. Der Text muss exzeptionell gut durchgearbeitet sein, um die aphoristisch verdichteten Sentenzen derart sinnhaft in einem Sprachfluss gestalten zu können, wie es in Göttingen gelingt. Wo für jede Betonung und die Wucht der Vorgänge auch noch ein emotional präzisierender Ausdruck gefunden wird.

Die Schauspieler sind die Helden des Abends. Götter gibt es eh keine mehr. Als Odysseus sie herausfordert, erntet er Schweigen. Im Gegensatz zu Sophokles’Vorlage zieht Philoktet bei Müller final nicht mit in den Kampf, sondern in den Tod. Seine Leiche inszeniert Manipulator Odysseus als gemeuchelten Märtyrer, um die mörderische Kriegslust des Heeres neu zu befeuern. Auf dass sie wüst und menschenleer werde, die Erde.

Mi, 4. 9., bis Sa, 7. 9., 20 Uhr, Göttingen, Deutsches Theater. Weitere Aufführungen: 10./11./14./17.–19. 9.

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