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„Barometer“ macht ratlos

Laut einer Studie der Jacobs Uni für die Robert-Bosch-Stiftung werden Behinderte nahezu überall besser akzeptiert als in Bremen. Eine Erklärung dafür scheint es nicht zu geben

VonLotta Drügemöller

Bremen ist besonders tolerant: Das beweist eine Studie der Jacobs University. Die gleiche Studie sagt aber auch: Das gilt nicht für alle benachteiligten Gruppen, denn Behinderte und ihre Bedürfnisse werden fast überall in Deutschland besser akzeptiert als in Bremen.

Die Jacobs Uni hat für die Robert-Bosch-Stiftung die Akzeptanz für verschiedene Formen von Vielfalt in den deutschen Bundesländern untersucht. Norddeutsche Länder und die Stadtstaaten sind demnach besonders tolerant: Bremen landet auf dem dritten Platz, nur Hamburg und Schleswig-Holstein schneiden noch etwas besser ab.

Am wenigsten Verständnis wird laut „Vielfaltsbarometer“ für religiöse Einstellungen und für arme Menschen aufgebracht. Gegenüber Menschen unterschiedlicher Herkunft und queeren Personen zeigen die Befragten eine größere Anerkennung – der gemessene Akzeptanzwert liegt dabei deutlich über dem Mittelwert von 50. Die geringste Ablehnung gibt es aber für die „Vielfaltsdimension“ Behinderung. Ausgerechnet in diesem Bereich zeigt Bremen aber weniger Verständnis.

In dieser Kategorie werden durchschnittlich 83 von 100 möglichen „Akzeptanzpunkten“ erreicht, in Bremen sind es aber lediglich 79,12 – nur in Mecklenburg-Vorpommern ist der Wert noch schlechter. Der Bremer Abstand zum Durchschnitt kann hier nicht als geringe, zufällige Abweichung abgetan werden: Weil die Unterschiede insgesamt nur gering ausfallen, sind die vier Punkte hier statistisch relevant – und der Bremer Abstand zum Spitzenreiter Hamburg mit seinem Wert von 87,16 Punkten sogar eklatant.

Im Sozialressort kann man sich das schlechte Bremer Ergebnis nicht erklären. Schließlich, sagt Ressortsprecher David Lukaßen, „spielt Bremen in der Inklusion bundesweit vorne mit“. Tatsächlich haben im Schuljahr 2015/16 in Bremen 83,5 Prozent der SchülerInnen mit Förderbedarf eine normale Regelschule besucht – nirgends in Deutschland ist die Inklusionsquote annähernd so hoch. Auf dem zweiten Platz folgt Schleswig-Holstein mit nur 65,3 Prozent.

Eigentlich müssten die hohen Inklusionswerte eher für eine gute Akzeptanz von Behinderten in Bremen sorgen. Denn normalerweise, so ein Ergebnis der Studie, steigt die Akzeptanz von Vielfalt vor allem dort, wo es Vielfalt gibt. Trotzdem sieht das „Vielfaltsbarometer“ ausgerechnet hier eine mögliche Erklärung für das schlechte Abschneiden des Stadtstaates: Die Ablehnung gehe „vermutlich auf derzeit durchaus ,holprige‘ Einführung schulischer Inklusion im Land Bremen“ zurück, heißt es in der Studie.

Dass die Inklusion in Bremen zur schlechten Gesamtwertung beigetragen hat, glaubt auch Bremens Landesbehindertenbeauftragter Joachim Steinbrück: „Da wurden ganz viele handwerkliche Fehler gemacht.“ Von Anfang an sei die Inklusion nicht richtig finanziert gewesen – und die Abschaffung des Studiengangs Sonderpädagogik in Bremen habe zusätzlich dazu geführt, dass bis heute zahlreiche Schulklassen nicht mit einem ausgebildeten Sonderpädagogen besetzt sind. Neben den tatsächlichen Mängeln in der Einführung der Inklusion sieht Steinbrück als einen weiteren Grund für das schlechte Image der Inklusion auch die Berichterstattung über das Thema: „Für Radio Bremen war ,Inklusion‘ nur noch Thema, wenn es Probleme mit Behinderten gab.“

Tatsächlich ist die Ablehnung der BremerInnen dort am größten, wo die Studie nach Inklusion fragt. Die Aussage „Inklusion schadet normal entwickelten Kindern“ findet im Bundesdurchschnitt 24 Prozent Zustimmung – in Bremen sind es 39 Prozent. „Die meisten Menschen haben nicht viel mit Behinderten zu tun“, sagt die Psychologin Regina Arant von der Jacobs Uni. „Die Inklusion dagegen betrifft alle Familien mit Kindern zwischen 0 und 19 Jahren, hier wird Behinderung alltagsrelevant.“

Doch als alleiniger Erklärungsfaktor fällt Inklusion trotzdem heraus: Auch bei den beiden anderen Fragen, die die Einstellung zur „Dimension Behinderung“ beleuchten sollen, schneidet Bremen vergleichsweise schlecht ab: Im Bundesdurchschnitt finden nur 5,6 Prozent, die Forderungen von Behinderten seien „(eher) überzogen“; in Bremen geben das zehn Prozent der Befragten an. Und während deutschlandweit nur etwa ein Prozent der Aussage „Mich stört der Anblick behinderter Menschen“ „ziemlich“ oder „völlig“ zustimmt, sind es in Bremen drei Prozent.

Herrscht in Bremen Missgunst, gerade weil viel Geld und Energie in die Behindertenpolitik fließt? Die Ergebnisse der Studie stützen auch diese These nicht: So ist die Akzeptanz gegenüber Menschen mit ausländischen Wurzeln und gegenüber armen Menschen hier besonders hoch – obwohl Bremen auch in diese Bereiche vergleichsweise stark investiert.

Das „Vielfaltsbarometer“

Für die Studie befragt wurden insgesamt 3.025 Menschen ab 16 Jahren.

Die Datenerhebung erfolgte durch das Bonner Institut für angewandte Sozialwissenschaft (infas). Die Jacobs University hat das Vorhaben wissenschaftlich verantwortet.

Damit es auch für kleine Bundesländer statistisch relevante Ergebnisse gibt, wurde für diese Länder mit einem sogenannten „Boost“ gearbeitet: Es wurden mehr Menschen befragt als proportional vorgesehen wären – so auch in Bremen.

Zum „Vielfaltsbarometer“ herrscht deshalb vor allem: Ratlosigkeit. Richtig erklären kann sich die Ergebnisse niemand. „Grundsätzlich empfinde ich Bremen als tolerante und weltoffene Stadt“, so Steinbrück, der selbst blind ist. „Es gibt hier eine große Selbstverständlichkeit, dass Behinderte am öffentlichen Leben teilnehmen.“

Doch natürlich wird ihm als Behindertenbeauftragten auch von diskriminierenden Bemerkungen berichtet: „Früher hätte man euch vergast“ sei schon mal in der Straßenbahn zu hören. Und er selbst sei schon als Ratte bezeichnet worden. „Vielleicht wird die größere Selbstverständlichkeit und die Akzeptanz auf der anderen Seite begleitet vom Erstarken einer rechtspopulistischen Haltung“, mutmaßt Steinbrück.

Die WissenschaftlerInnen von der Jacobs Uni wollen die Ergebnisse der Studie vorerst nur an die PraktikerInnen abgeben. „Das schönste an Forschung ist, wenn die Ergebnisse zum Handeln verleiten“, so Regina Arant. „Die Studie liegt jetzt da, wie ein Geschenk. Die Politik sollte das nutzen.“

Bei der Sozialbehörde will man das auch tun und sich mit der Studie nun näher beschäftigen. Eine Möglichkeit, so Lukaßen, könne sein, eine weitere Erhebung zu starten, um mehr über die Ursachen zu erfahren.

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