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Die zu spät gekommene Richterin

Beim Filmfestival von Locarno regiert die Cinephilie. Ein Film, der in den Slums von Lissabon spielt, hat gewonnen

Vitalinas Gesicht ist der emotionale Bezugspunkt für das gespenstische Treiben in „Vitalina Varela“ von Pedro Costa Foto: Locarno Film Festival

Von Dominik Kamalzadeh

Ein Mosaik aus gelben und schwarzen Stühlen, die das Fell des Festival-„Tiers“, des Leoparden, nachzeichnen. Bis zu 8.000 Menschen finden auf der Piazza Grande in Locarno Platz. Und wenn, wie am ersten Wochenende des Festivals, Quentin Tarantinos „Once Upon a Time … in Hollywood“ auf dem Programm steht, ist sie ausverkauft. Ein imposanter Anblick, bei dem man ins Schwärmen kommt. Einen Moment lang könnte man das Geraune vom Niedergang des kollektiven Film­erlebnisses glatt vergessen. Doch ein solcher Event spiegelt freilich nicht die Gesamtsituation wider. Nicht einmal die eines Filmfestivals wie Locarno. Immer mehr Filme, immer mehr Distributoren, aber immer weniger kompetente Lotsen – ungefähr so ließe sich die gegenwärtige Situation umreißen.

Der Italiener Marco Müller, der das Schweizer Festival in den 1990er Jahren geleitet hat, wagte damals noch das Experiment, die Verästelungen des Kinos an einem symbolischen Ort wie dem Stadtplatz zusammenzuführen. Da konnte ein Film wie Paul Verhoevens „Starship Troopers“ neben einer formstrengen Arbeit von Godard oder Straub/Huillet laufen. Die Französin Lili Hinstin, die dieses Jahr ihren Einstand als Direktorin gab, orientiert sich am Kurs ihrer beiden Vorgänger Olivier Père und dem nach Berlin berufenen Carlo Chatrian, die Locarno wieder als Ort der Cine­philie etablierten. Die Piazza ist für die Crowdpleaser da, im Wettbewerb dominiert ein avanciertes Arthouse-Kino, während experimentelle Formate in der neu benannten Sektion „Moving ahead“ aufgehoben sind.

Die Trennwände zwischen den Abteilungen sind jedoch nicht so abgedichtet, dass der Dialog zwischen ihnen ausbliebe. Ohne ein produktives Gewirr der Stimmen, den überraschenden Linien, die sich beim Besuch ergeben, hat ein Festival keine Handschrift. „Krabi, 2562“ vom Briten Ben Rivers und der thailändischen Regisseurin Anocha Suwichakornpong lief bei „Moving ahead“, hätte aber auch gut in eine andere Sektion gepasst. Der Film ist ein Dokumentarfilm der Irrungen und Verästelungen, der seine Richtung scheinbar nach Lust und Laune einschlägt.

Den roten Faden bildet die Suche nach Mythen und deren Migration durch die Zeiten: Welche Tradition hinter den Sehenswürdigkeiten der südwestlichen Region Thailands ist erfunden, welche real? Was hat es mit dem Fruchtbarkeitsaltar voller Penisskulpturen in der Phra-Nang-Grotte auf sich? Rivers und Suwichapornkong geben ihren Bildern Raum zum Atmen. Ein etwas ratlos wirkender Regisseur (vom Filmemacher Oliver Laxe verkörpert) und eine Frau, die sich als Location-Scout ausgibt, verweisen darauf, dass das Kino selbst ein Schöpfer populärer Mythen ist.

In seiner Vermischung von Formen ist „Krabi, 2562“ genauso ein „typischer“ Film für Locarno wie „Space Dogs“ von Elsa Kremser und Levin Peter. Das deutsch-österreichische Filmemacherpaar begleitet Straßenhunde gleichsam in Augenhöhe durch Moskau, belässt es dabei aber auch nicht bei einer realistischen Perspektive. Denn die tierischen Überlebenskünstler werden in die Tradition sowjetischer Raumfahrtpioniere gestellt. Die Anrufung der heroischen Vergangenheit von Laika und Co. per Voice-Over und Archivbilder hebt auch die zotteligen Streuner der Gegenwart in ein zärtliches Licht.

Doch auch im Wettbewerb werden Sehgewohnheiten irritiert. „Vitalina Varela“ von Pedro Costa war eine der bezwingendsten Arbeiten und hat den Goldenen Leoparden gewonnen. Der portugiesische Regisseur setzt seine unnachahmliche Exkursion in die urbanen Slums kapverdischer Einwanderer in Lissabon fort. Die Figuren, die bei ihm gemeinsam mit den Laiendarsteller erarbeitet werden, sind zum Teil Echos früherer Filme, etwa aus „Horse Money“, für den Costa in Locarno als bester Regisseur ausgezeichnet wurde.

Jedes einzelne der von Costas aus dem Schatten kunstvoll ausgeleuchteten Bilder ist exquisit. Mit Vitalina, die nach dem Tod ihres Mannes bloßfüßig aus dem Flugzeug tritt, kommt er auf eine frühere Erzählung aus „Horse Money“ zurück. Ihr Gesicht bleibt der emotionale Bezugspunkt für das gespenstische Treiben. Trotz ihrer Empörung, ihres Schmerzes, mit denen sie die desolaten Räume ihres Mannes betrachtet, bleibt sie auf einen würdevollen Abschied konzentriert. Costas Kino will uns auf die Seite dieser zu spät gekommenen Richterin ziehen.

Der Galicier Eloy Enciso ist ein Geistesbruder von Costa. In „Longa noite“ bilden Briefe und Texte aus der Zeit nach dem Terror der Falangisten der 1930er Jahre den Ausgangspunkt für eine Studie menschlicher Unzulänglichkeiten in politisch ungewissen Zeiten. Wie Costa schafft Enciso einen Gedankenraum über Epochen hinweg. Dialogszenen weichen mit der Zeit nachtschwarzen Naturbildern, in denen die Figuren immer mehr auf ihre Ängste und Urtriebe zurückgeworfen sind.

Ohne ein produktives Gewirr der Stimmen und überraschende Linien hat ein Festival keine Handschrift

Doch nicht alles in Locarno ist Autorenkino der strengen Sorte, Hinstin und ihre Kuratoren haben erfrischend abwechslungsreich programmiert. Auffallend war die Anzahl spielerischer Zugänge. Der US-Amerikaner Joe Talbot erzählt in „The Last Black Man in San Francisco“ von diffusen Untergangsstimmungen, anarchischen Inbesitznahmen sowie den Grenzen liberaler Toleranz in der Metropole.

Hauptdarsteller Jimmie Fails spielt eine Variation seiner selbst und auf seine eigene Familiengeschichte. Es geht um ein viktorianisches Haus, das sein Großvater einst im „Harlem des Ostens“ gekauft hatte und in das Jimmie im nunmehr gentrifizierten Stadtteil illegalerweise einzieht. Der Traum vom eigenen Heim wird hier mit einer magischen-skurrilen Drehung zur historischen Reparatur an den Schwarzen umgedeutet.

Auch die Französin Nadège Trebal hält sich in ihrem Film „Douze mille“ nicht unbedingt an die Regeln des Sozialdramas, wenn sie eine junge Liebe durch einen ökonomischen Kraftakt auf die Probe stellt. Frank (Arieh Worthalter) ist ein Schlawiner, der sich in prekären Arbeitswelten mit kleineren Gaunereien durchschlägt und selbst kleine Tanzeinlagen für seinen Kumpels aufführt, wenn es ein wenig Kleingeld abwirft. Wie Talbot inszeniert Trebal im Grunde gegen die faktischen Begebenheiten an. Sie feiert die List und die Dreistigkeit einer Figur, die sich für ein größeres Ziel eigene Freiräume erfindet. Gegen den alles durchdringenden Kapitalismus setzt dieses Kino die subversive Kraft von Konstellationen, die zeitweise neue Handlungsweisen erlauben.

In „Das freiwillige Jahr“ von Ulrich Köhler und Henner Winckler geht es dagegen darum, ein Bild für das heillose Durcheinander eines Mannes zu schaffen, der sich für rechtschaffen hält. Die Komödie beginnt mit einem hastigen Aufbruch. Jette (Maj-Britt Klenke) soll von ihrem Vater Urs (Sebastian Rudolph) zum Flughafen gebracht werden, um ein Jahr in Afrika zu verbringen. Doch die Sturheit des helikopterhaften Elternteils, das kein Bewusstsein für seinen Paternalismus hat, und das emotionale Ungleichgewicht der Tochter führen den Film auf Abwege, ja in eine Chaosspirale. Köhler und Winckler überraschen mit einem Buñuel’schen Alltagsdrama der Wiederholung, in dem die Figuren im hastigen Tempo nicht aus ihrer Haut herauskönnen. Die beiden haben ihren Film eigentlich als TV-Film produziert, nun wird er auch in Deutschland ins Kino kommen. Ein gutes Beispiel dafür, wie beweglich der Markt in Wahrheit sein kann.

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