: Über Trichterbecher und die frühen Sachsen
Megalithanlagen aus der Jungsteinzeit zeugen zwischen Elbe und Weser von den ersten Siedlern. Noch heute werden immer neue archäologische Stätten aus dem Torf ausgegraben. Und auch von den Sachsen der Völkerwanderungszeit gibt es noch viele Hinterlassenschaften zu entdecken
Von Helene Hinrichsen
Auffällig ist er schon, dieser 20 Meter hohe Hügel inmitten von flachen Äckern unweit des Dorfes Westerwanna, den man über 25 Stufen aus Eichenbohlen besteigen kann. Spektakulär aber ist er eher nicht. Dabei lag hier, rund zwölf Kilometer südwestlich von Otterndorf an der Elbe, eine der bedeutendsten archäologischen Fundstätten aus der frühen Sachsenzeit. Mehr als 3.000 Urnengräber sind hier entdeckt worden, Zeugnisse der nach ihrem einschneidigen Schwert, dem „Sax“, benannten Westgermanen, die etwa seit dem dritten nachchristlichen Jahrhundert im Nordwesten des heutigen Deutschlands lebten. Das Elbe-Weser-Dreieck gilt als Kernland des sächsischen Siedlungsraumes.
Auf und um den Gravenberg, so heißt der rundbucklige, von Eichen bestandene Hügel, bestatteten die alten Sachsen ihre zuvor verbrannten Verstorbenen, und oft legten sie Beigaben in die Urnen: Fibeln, Gürtelschnallen, kleine Werkzeuge, manchmal Waffen. Die Tongefäße selbst waren meist verziert. Ihr Hauptinhalt bestand aus Leichenbrand, wie die Frühgeschichtler die Überreste unserer Vorfahren etwas pietätlos nennen. Zufällig war der Ort mit Sicherheit nicht gewählt, denn der Hügel verbarg in seinem Inneren wahrscheinlich ein Megalithgrab aus der Jungsteinzeit und war den Menschen, die hier rund 3.000 Jahre später lebten, vermutlich heilig.
Die Gräberfelder, die schon im 18. Jahrhundert bekannt waren und gern mal geplündert wurden, sind mehrfach archäologisch untersucht worden, alle Hinterlassenschaften dem Geestboden entrissen. Einige der Funde sind im Heimatmuseum Wanna zu besichtigen, andere wenige Kilometer weiter im Museum Burg Bederkesa. Ein Großteil lagert im Archäologischen Museum Hamburg-Harburg, dem ehemaligen Helms-Museum, gelegentlich wird das eine oder andere Stück der Sammlung in einer Ausstellung gezeigt.
Am Gravenberg selbst kündet nur ein schlichtes Schild von der Bedeutung des Ortes. Damit den Besuchern noch etwas mehr geboten wird als ein schöner Rundumblick, können sie sich per QR-Code eine Sage von auf Ziegen reitenden Hexen anhören, die hier angeblich einst ihr Unwesen trieben. Man braucht also etwas Fantasie, um sich vorzustellen, wie es hier zur Völkerwanderungszeit ausgesehen haben könnte. Ackerbau und Viehzucht haben sie betrieben, die Altsachsen, von Zeit und Zeit betätigten sie sich als Seeräuber, wie römische Autoren beklagten.
Einige wanderten – nicht ganz ohne Gewaltanwendung – auf die britische Hauptinsel aus, was sich etwa in den Landschaftsnamen Middlesex und Sussex (Mittelsachsen und Südsachsen) widerspiegelt. Mit den heutigen Sachsen haben die Siedler zwischen Elbe und Weser übrigens weder genetisch noch sprachlich etwas zu tun.
Nur der Name wanderte elbaufwärts, zusammen mit Fürsten oder Herzögen, die ihre Titel mitnahmen, wenn ihnen neue Ländereien übertragen wurden. Die Bewohner des Bundeslandes Sachsen waren eine Mischung aus Slawen und süddeutschen Einwanderern und bekamen erst im späten Mittelalter den Titel ihres Herrschers als Namen verpasst. Ihre Sprache war das Meißnische, „gesächselt“ wird erst seit einigen Jahrhunderten.
Zum Glück für Westerwanna und auch für Gäste auf der Suche nach historischen Hinterlassenschaften gibt es hier noch Spuren anderer Bewohner aus viel früherer Zeit, und zwar durchaus eindrucksvolle. Die zur sogenannten Trichterbecherkultur zählenden ersten Siedler in Nordwestniedersachsen errichteten im dritten und vierten Jahrtausend vor Christus für ihre Verstorbenen Großsteingräber. Obwohl man im 18. und 19. Jahrhundert die gewaltigen Steine gern für Bauarbeiten nutzte, sind noch etliche dieser Megalithanlagen erhalten. In Westerwanna zum Beispiel liegt eines am Postweg in einem kleinen Wäldchen westlich des Ortes.
Im wenige Kilometer südlich gelegenen Flögeln sind gleich mehrere zu besichtigen. Die „Steinkiste“ etwa, einst unter einem Grabhügel verborgen und Mittelpunkt eines größeren Gräberfeldes, besteht aus fünf Seitensteinen und einem großen Deckstein. In ihr fand man den Leichenschatten eines etwa 1,80 Meter großen Menschen in Hocklage.
Im Waldgebiet Flögelner Holz lässt sich ein Vorgeschichtspfad erwandern, der an mehreren Grabhügeln und zwei ausgegrabenen Megalithgräbern entlang führt. Bei einem kann man in die mit einer Gittertür gesicherte Grabkammer schauen. Sie misst rund sechs mal zwei Meter und wurde aus zehn Tragsteinen errichtet, auf denen fünf Decksteine ruhen. Der Hügel, der sie verbarg, hatte einen Durchmesser von 29 Metern. Keramikscherben der Trichterbecherkultur sowie ein Beil, eine Speerspitze und ein Teil einer Axt, alle Werkzeuge steinzeittypisch aus Feuerstein, wurden hier gefunden.
Wie viele solcher Großgräber noch im Boden verborgen sind, weiß niemand so genau. Meistens sind es Landwirte, die bei ihrer Arbeit auf die riesigen Steinbrocken stoßen. So war es auch in Ahlen-Falkenberg zwischen Westerwanna und Flögeln, wo derzeit Mitarbeiter*innen des Niedersächsischen Instituts für historische Küstenforschung aus Wilhelmshaven auf einem Feld im Moor ein Megalithgrab freilegen. Vorsichtig, Schicht um Schicht, entfernen die Grabungshelfer*innen die Erde über den gewaltigen Steinplatten.
Blog des Niedersächsischen Instituts für historische Küstenforschung zur Grabung im Ahlen-Falkenberger Moor: https://relikteimmoor.home.blog
Heimatmuseum Wanna, Museumsweg 3, 21776 Wanna, Öffnungszeit: 1. Mai bis 3. Oktober, sonntags von 10 bis 11 Uhr, https://www.museum.de/de/museen/heimatmuseum-wanna
Museum Burg Bederkesa, Amtsstraße 17, 27624 Geestland, Öffnungszeiten: Mai bis September: Dienstag bis Sonntag von 10 bis 18 Uhr; Oktober bis April: Dienstag bis Sonntag von 10 bis 17 Uhr
https://www.burg-bederkesa.de
Ob das Grab einst geräubert wurde oder ob die Wissenschaftler auf Spuren der Beisetzung vor drei- bis viertausend Jahren stoßen, wird sich erst in Kürze zeigen. Ein paar Keramikscherben sind schon aufgetaucht, die eindeutig aus der Jungsteinzeit stammen. Gut zu sehen sind die sogenannten Rollsteine, mit denen die Grabkonstrukteure der Jungsteinzeit entweder den ganzen Hügel bedeckten oder den Eingang schützen.
Ein paar Hundert Meter weiter fanden die Archäologen etwas Ungewöhnliches: einen annähernd kreisrunden Hügel aus vergleichsweise großen Steinen mit einem Durchmesser von etwa 4,50 Metern und einer Höhe von mindestens 50 Zentimetern. Nicht nur die Größe der Steine, auch die Tatsache, dass sie einen vollständigen Hügel bilden, deutet darauf hin, dass es sich hier vermutlich nicht um ein Großsteingrab handelt, sondern um eine jüngere Begräbnisstätte aus der sogenannten Einzelgrabkultur.
Ein Ende der Entdeckungen ist nicht abzusehen. Wo heute Moorboden vorherrscht, kann vor Tausenden von Jahren siedlungsgeeigneter Grund gewesen sein. Die Suche im torfigen Boden lohnt also. Mit Hilfe eines Geomagnetikgeräts lassen sich Objekte orten, die archäologischen Ursprungs sein können. Oder auch nicht. Gelegentlich entpuppt sich detektierter Gegenstand auch mal als moderner Schrott.
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