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Unter Sternen

Als einer der ersten linken Buchläden wurde in Marburg 1969 der Rote Stern gegründet – heute ist er einer der letzten. Eine Liebeserklärung zum 50. Geburtstag

Aus Marburg Lea De Gregorio (Text) und Markus Kirchgessner (Foto)

Wo der Buchladen noch politisch ist? Wer das herausfinden will, muss nach Hessen fahren, nach Marburg genau genommen. In der verträumten Universitätsstadt mit ihren engen Gassen ist das Buchladenkollektiv Roter Stern mit seinem linken Publikum eine Institution – noch heute. Eine Buchhandlung mit zehn Inhaberinnen und Inhabern, in einer Zeit, in der Amazon sich die Bücherwelten mit Algorithmen erschließt und Buchhandelsketten kleine Läden vom Markt verdrängen.

Neben der Buchhandlung Roter Stern liegt ein Café-Kollektiv, wo sich neben alten Männern mit dicken Zigarren Studierende tummeln und in linken Zeitungen blättern am Ufer der Lahn. Ein Fleckchen Ruhe in einer hektischen Welt, ein Freiraum zum Denken.

Als ich 2015 während des Studiums anfing, im Antiquariat der Buchhandlung zu arbeiten, stand noch eine Karl-Marx-Büste als Kaffeekasse herum. Damals habe ich mich immer gefragt, warum ehemalige Mitarbeiter*innen, die mittlerweile in Berlin wohnen, ihre Bücher immer noch in Marburg beim Roten Stern bestellen. Es schien für viele eine tiefere Verbindung zu geben zu diesem über die Grenzen Marburgs hinaus bekannten Laden. Und nun, ehe ich michs versah, ist es auch für mich eine Selbstverständlichkeit, von Berlin nach Marburg zu fahren, weil der Rote Stern 50 wird.

In der Mitte angekommen

Ehemalige Mitarbeiter, Freunde und Stammkunden treffen sich zum Jubiläumsfest im Kulturzentrum Waggonhalle, um den Geburtstag der Buchhandlung zu feiern. Dicht gedrängt, manche stehend, manche auf dem Boden sitzend, erzählen sie sich gegenseitig ihre Erinnerungen. Wir schauen auf Bilder, die an die Wand geworfen werden und überschrieben sind mit „Klausur des Kollektivs“ und „FC Roter Stern“, junge Leute mit langen Haaren sind auf ihnen zu sehen. Manch einer nennt leise einen Namen, als er auf die Bilder zeigt. Die meisten der Zuschauer sind doppelt so alt wie ich und älter, die Haare ergraut. „Der Rote Stern ist in der Mitte der Marburger Gesellschaft angekommen“, sagt Buchhändler Michael Wolf. Die revolutionären Zeiten des Roten Stern habe ich verpasst, denke ich.

Anfang der Siebziger gründeten Laien in vielen Universitätsstädten sogenannte politische Buchhandlungen, geboren aus der Studentenbewegung und der Neuen Linken. Das Besondere am Roten Stern: Er hat sich gehalten. Neben dem Hauptgeschäft liegt heute die Kinderbuchhandlung Lesezeichen, die zum Roten Stern gehört. Außerdem beliefert die Buchhandlung die Universitätsbibliotheken, was einen großen Teil des Geschäfts ausmacht.

Die Buchhändler der ersten Stunde einten Idealismus und Utopie, sie sahen den Bücherverkauf als politisches Engagement und wollten die Welt verändern – mit Büchern. Eine Gegenöffentlichkeit bilden, sich wehren gegen Mainstream und Profit. Studierende vertrieben linke Literatur, die es in bürgerlichen Buchhandlungen teils nicht zu kaufen gab: Mao, Marx, kritische Theorie, vergessene Literatur aus der Zeit vor dem Krieg. Viele der Bücher waren Nachdrucke und Raubdrucke, die vor Mensen, in Kneipen, auf Demonstrationen verkauft wurden.

„Die Buch-handlung hat Zukunft, weil es das Konzept des Kollektivs gibt“

Philipp Ilsemann, Roter-Stern-Kollektiv

„Es ging immer hoch her“, sagt Astrid Horst, 66, die als Mitarbeiterin die späten Siebziger und Achtziger im Roten Stern miterlebte, als ich sie auf der Veranstaltung anspreche. Sie sitzt im Hof der Waggonhalle und raucht. Irme Schaber, 62, ebenfalls ehemalige Mitarbeiterin aus dieser Zeit, sitzt ihr gegenüber: „Es gab immer Fraktionsbildung“, sagt sie. Etwa als es um „Baader-Meinhof“ ging, erzählt Astrid. Und Irme: „Wir haben bei den Sitzungen selten gemütlich beisammengesessen.“

Immer wieder gab es polizeiliche Durchsuchungen. „Auch bei mir haben sie die Wohnung durchsucht wegen der Raubdrucke“, sagt Astrid. Die Buchhandlung hat ihre Mitarbeiter geprägt: Rollenmodelle wurden neu erfunden, alles war politisch, wurde diskutiert. Astrid erzählt, wie sich ein Vertreter des Wagenbach Verlags den Schlips abnahm, bevor er den Laden betrat.

Das Kulturzentrum Waggonhalle, in dem der Rote Stern Geburtstag feiert, liegt neben einem Abstellgleis. Ein roter Pumpwagen steht neben roten Backsteinruinen alter Eisenbahnhallen. In der Luft Bratwurstgeruch und Nostalgie. Im Biergarten des Kulturzentrums wippt ein Saxofonist neben einem Mann mit E-Gitarre. Heute laufen nicht mehr Ton Steine Scherben, sondern Jazz und „Time after Time“.

Der Marburger Oberbürgermeister Thomas Spies von der SPD trägt eine rote Krawatte mit Che-Guevara-Porträt, als er bei der Jubiläumsfeier eine Rede hält. „Solche Leute wären uns früher nicht ins Haus gekommen“, schreibt ein ehemaliger Mitarbeiter aus der Gründungszeit in einem Brief, der verlesen wird. Er meint nicht nur den Bürgermeister, sondern auch den Politologen und Autor Georg Fülberth, der Mitglied der DKP ist. Fülberth spricht bei der Veranstaltung über den Gründer des Roten Stern, Christian Boblenz, der mittlerweile in Thailand lebe. Die Buchhandlung galt als antibürgerlich und undogmatisch, war parteiunabhängig, eine Widersacherin der Parteibuchhandlungen der DKP. Oft gab es Grabenkämpfe zwischen linken Gruppen.

Ratgeberbücher: Unpolitisch!

Anfang der Achtziger hat sich die Buchhandlung professionalisiert. Irme war die erste Ausbilderin, die die Kollektivisten zu echten Buchhändlern machte, erzählt sie. Auch wenn sich viele gegen den Erwerb von Eigentum wehrten, kaufte das Kollektiv 1978 das Haus in der Straße am Grün, in dem sich der Rote Stern bis heute befindet.

Es sei nicht mehr vordergründig um Klassenkampf gegangen, sondern um den Einzelnen und dessen Lebens- und Arbeitswelt. „Ich weiß noch die Diskussion über die ersten Ratgeber. Die sind nicht politisch, hieß es“, erzählt Irme. Man engagierte sich in der Friedensbewegung, der Anti-AKW-Bewegung. „Wir waren Teil der Sponti-Szene“, sagt Ulrich Hogh-Janovsky. Er ist mit 64 Jahren der älteste Kollektivist.

Die Verbindung zwischen dem, was in den Büchern steht, und dem, was in den Köpfen der Buchhändler vorgeht, scheint damals noch intensiver gewesen zu sein. Die Lektüre formte die Menschen. Darum hängen so viele an dem Laden, denke ich, als Ulrich erklärt: „Wir wollen nicht nur die Welt, sondern auch uns selbst verändern.“ Die neuen Modelle von Arbeit und Leben sollten ansteckend sein.

Die Streitkultur ist geblieben. Man empört sich im Laden über die lokale und globale Politik, man diskutiert mit den Stammkunden von Angesicht zu Angesicht, nicht über Chats oder Handy.

„Ich glaube, dass die Buchhandlung Zukunft hat, weil es das Konzept des Kollektivs gibt“, sagt Philipp Ilsemann, 29, als ich ihn auf der Geburtstagsfeier anspreche. Er ist der mit Abstand Jüngste im Kollektiv. Als ich 2017 den Laden verließ, hat er als Aushilfe angefangen. Seit gut einem Monat ist er fest dabei. „Jeder ist Chef, jeder hat das gleiche Mitspracherecht und kann Einfluss nehmen“, sagt er. Sein politisches Engagement sei der Buchverkauf.

Die Buchhandlung sieht gute Chancen, an politische Debatten der Jüngeren anzuknüpfen. Denn viele neue Themen sind die alten. Nachhaltigkeit zum Beispiel, Dinge nicht wegzuwerfen, sondern wieder zu reparieren. Das sei „absolut politisch und antikapitalistisch“, sagt Philipp, und Ulrich erklärt, dass auch Bewegungen wie Fridays for Future gewissermaßen die Gedanken der eigenen Tradition fortführten, auch wenn die Kommunikationsstruktur „vollkommen anders“ sei.

Auch heute gibt es im Roten Stern noch Bücher aus kleinen Verlagen, ein Denken jenseits von Mainstream und Profit.

Ich habe das Gefühl, hier manchmal mehr als in der Universität gelernt zu haben. Das Kollektiv habe ich als Raum empfunden, in dem Denken ermöglicht wird: Es gibt keine Hierarchien und keine Autoritäten, nur die eigensinnigen, aber ehrlichen Charaktere und die Launen der Mitarbeiter.

Und überall steht Wissen, stehen Bücher. Buchhändler, die wissen, was man lesen muss, und Kunden, die es manchmal besser wissen. Wenn man schlauer werden will, hört man einfach zu.

Die Sonne verschwindet hinter den Backsteinruinen der Waggonhalle und lässt die Abstellgleise im Schatten liegen. Die jüngeren Gäste stehen weiter beieinander und diskutieren, während die Alten müde werden. Der Rote Stern leuchtet ­weiter.

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