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„Ungarns Demokraten haben das Volk nicht gekannt“: Ágnes Heller in der taz

Über Viktor Orbán und Ungarn:

„Falls Fidesz die Wahl gewinnt, was wahrscheinlich ist, ist Ungarn in der nächsten Zukunft für die Demokratie verloren. Die demokratischen Regierungen Ungarns haben unsere Geschichte vergessen, sie haben unser Volk überhaupt nicht gekannt. Sie glaubten, wenn mit den Institutionen der Freiheit alles in Ordnung ist, dann steht die Demokratie auf einem sicheren Boden. Wir zahlen jetzt alle für dieses Missverständnis.“

(taz-Interview, 22./23. 3. 2014)

Über Europa und die USA:

„Ich schätze die Vereinigten Staaten von Amerika mehr als Europa. Weil die Amerikaner nicht zynisch sind. Sie glauben an die Freiheit, an die Demokratie. Sie mögen naiv sein und borniert, aber trotzdem haben sie Hoffnung. Und das ist wertvoll im Vergleich zu den europäischen Bürgern. Der europäische Zynismus hat keinen Glauben – an gar nichts. Und sie haben keine Kinder. Alle meine Studenten in den USA haben drei oder vier Kinder, weil sie an die Zukunft glauben. Und sie können integrieren. Es gibt keine größere Patrioten in den USA als die Immigranten. Sie müssen ihre nationalen Traditionen nicht aufgeben, um Amerikaner zu sein. Europa marginalisiert die anderen Kulturen. Europa ist in diesem Sinne impotent.“

(taz-Interview, 9./10. 4. 2011 – als Orbán-Fans gegen sie beim taz-Kongress demonstrierten)

Über Napoleon, Hitler und Stalin:

„Neben Rothschild ist Napoleon der erste Selfmademan in der Geschichte. Sie symbolisierten als Erste die unbegrenzten Möglichkeiten des Einzelnen in der neuen Welt. Nicht zufällig identifizierten sich gerade Ende des 19. Jahrhunderts zahlreiche Menschen in den Irrenhäusern mit Napoleon. Napoleon prägte als Erster zugleich das Image des Führers, für den die Sitten nicht mehr verbindlich sind, der macht, was er persönlich durchzusetzen imstande ist, ohne sich um den Preis dieser Haltung zu kümmern Wie Napoleon, so glaubten auch Hitler und Stalin, dass sie das Neue gegenüber einer alten Welt repräsentierten, eine Welt des Heroismus gegenüber der Welt der Vernunft und des Geldes.“

(taz-Interview, 25./26. 3. 2006)

Über Osteuropa und den Balkan:

„Für Osteuropa ist die Abwesenheit von oder das Defizit an Souveränität eher der Normalfall. Die politische Landkarte dieser Weltgegend wurde während der gesamten Neuzeit und bis zu diesem Augenblick von großen Hegemonialmächten gezeichnet. Im 19. Jahrhundert wurde die Region vom Russischen, vom Osmanischen und vom Habsburger Reich beherrscht; das war der erste Akt des Dramas. Seit den 30er Jahren gab Nazideutschland den Tod an. Das führte zum dritten Akt, dem Zeitalter des Krieges. Die sowjetische Herrschaft brachte Akt vier. Hier konnte sich keine rückwirkende Legitimation entwickeln; so etwas braucht Souveränität, Freiheit und Zeit. In dieser Hinsicht erstarrte die Geschichte. Erst jetzt kann der fünfte Akt des Dramas zur Aufführung gelangen. Er wurde zum abschließendes Akt einer klassischen Tragödie; er wurde mit Blut geschrieben. Und wie in allen Tragödien waren es Irrtümer und Verbrechen, die die Ereignisse zum tödlichen Ausgang trieben.“

(taz-Debattentext, 18. 8. 1992)