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„Spezielle Geschichte glaubhaft machen“

Es geht nicht nur um Einzelpersonen: An einem Ort wie dem einstigen „Braunen Haus“ Erinnerungsarbeit zu leisten, ergibt Sinn, sagt der Historiker Christoph Spieker – gerade wegen der dort verübten Taten

Christoph Spieker, 63, ist Historiker und leitet seit 2003 den Geschichtsort Villa ten Hompel in Münster. Er sitzt im Beirat für die Neukonzeption der Villa Schlikker.

Interview Harff-Peter Schönherr

taz: Herr Spieker, die niederländische Geschichtswissenschaft betrachtet Hans Georg Calmeyer anders als die deutsche. Inwiefern?

Christoph Spieker: Während die Osnabrücker in Calmeyer ein seltenes Einzelbeispiel dafür sehen, dass sich wenige Deutsche in der NS-Zeit auch menschlich verhalten haben, wird er aus der niederländischen Perspektive in erster Linie strukturell als Teil einer deutschen Besatzung gesehen, die das Land ausnutzen und ausbeuten wollte. In den Niederlanden wird wohl auch stärker die Perspektive derjenigen eingenommen, die nicht die Chance hatten, überhaupt auf die Calmeyer-Liste zu gelangen.

Osnabrück hat den Anti-Kriegs-Autor Erich Maria Remarque sowie den verfolgten und schließlich in Auschwitz umgebrachten Maler Felix Nussbaum zu Geschichtsmarken gemacht. Hat Calmeyer auch solches Potenzial?

Die Beschäftigung mit Calmeyer lohnt sich, aber die Osnabrücker „Geschichtsmarken“ haben unterschiedliche Profile: Remarque hat mit seiner literarischen Qualität früh auf das geistige Gift hingewiesen, mit dem die völkischen Kräfte verhindern wollten, friedliche Konsequenzen aus der Katastrophe des Ersten Weltkrieges zu ziehen. Nussbaum ist weltweit anerkannt als jemand, der von den Nationalsozialisten und auch aus der Villa Schlikker verfolgt wurde, und der sein Schicksal mit seinen künstlerischen Fähigkeiten verarbeitet hat. So verarbeitet, dass seine Bilder in der Ausstellung von Yad Vashem zu den eindrucksvollsten Dokumenten für die Verfolgung der Juden in Europa zählen.

Und Calmeyer?

Er hat uns – unabhängig von dem Grad seiner Beteiligung an dem Besatzungsregime in den Niederlanden – das Zitat geschenkt: „Ich war kein Held.“ Er selbst hat damit seine persönliche Perspektive mit einer generellen Einschätzung aus Sicht der Zeit zu einer demutsvollen Haltung verbunden. Diese „Scham“ sollte das Projekt didaktisch nutzen.

Die Villa ten Hompel in Münster und die Osnabrücker Villa Schlikker sind Geschichts- und Mahnorte. Was haben sie gemeinsam?

Beide sind aus privaten großbürgerlichen Kontexten entstanden. Beide Villen sind in der NS-Zeit zu Täterorten geworden. In Münster hat die Ordnungspolizei das Gebäude genutzt, um sich an der Besatzung Europas und der Schoah zu beteiligen. In Osnabrück ist die Villa ein diktatorischer Akteur zur Schaffung der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft gewesen, die unerwünschte Bevölkerungsteile, politische Gegner, als Juden klassifizierte Mitbürger, Menschen mit Behinderungen oder auch Zeugen Jehovas systematisch ausgrenzte, verfolgte und auch letztlich zu ihrer Ermordung beitrug.

Werden solche Orte nicht umso wichtiger, als es immer weniger Zeitzeugen gibt für das „Dritte Reich“?

Orte wie die Villa Schlikker oder die Villa ten Hompel haben die Chance, ihre spezielle Geschichte glaubhaft zu machen. Die Wahrnehmung einer Authentizität – konkret: ihr jeweiliger Beitrag zum NS-System – ermöglicht, sich mit einer zeitlich weit entfernten Geschichte so auseinanderzusetzen, dass Irritation, Emotion, aber vor allem auch Erkenntnisse zu einer Sensibilisierung führen, die so versucht, Gegenwart im Sinne einer Menschlichkeit zu gestalten. Allerdings reicht das Haus, der Backstein nicht: Die wichtigen Dinge und Bezüge müssen angesprochen und ins Gespräch gebracht werden.

In der Villa Schlikker entsteht ein „Friedenslabor“. Welche Chancen bietet das aus Ihrer Sicht?

Die Chance, aus der kritischen Analyse der Geschichte Nutzen für eine humane und demokratische Gegenwart zu ziehen. Denn die humane Katastrophe im letzten Jahrhundert sollte nicht ohne Konsequenzen bleiben.

Welches sind die größten geschichtswissenschaftlichen Herausforderungen bei so einer Neuausrichtung?

Einmal steht das Gebäude für die konkrete Form der nationalsozialistischen Diktatur in Osnabrück. Zum anderen wird durch die erinnerungskulturelle Initiative zu Hans Calmeyer ein Forschungsfeld angesprochen, das nur zum Teil vor Ort, aber zum großen Teil in den Niederlanden angemessen recherchiert und dann dargestellt werden kann.

Es ist vorteilhaft, Geschichte über Personen erzählen zu können. Aber es ist nicht ebenso wichtig, über das Individuum hinaus zu perspektivieren?

In Münster haben wir die Villa ten Hompel bewusst einen Geschichtsort genannt. Wir erzählen die Nutzung des Hauses und erstellen den Kontext zu weiteren Perspektiven. Wenn also Polizisten ab 1940 weltanschaulich durch den Befehlshaber der Ordnungspolizei in Münster geschult wurden, entsteht daraus eine Verantwortung für die Beteiligung dieser ganz normalen Männer am Genozid und der Schoah. Beide Perspektiven sind wichtig, denn ein Teil der Verantwortung für diese Verbrechen an der Menschheit liegen auch in den Villen in Münster und Osnabrück.

Das Osnabrücker „Labor“ soll besonders Jugendliche ansprechen.

Was Jugendliche anspricht, sollte auch die Qualität haben, Erwachsene anzusprechen. Im Übrigen stört es mich manchmal, wenn die „Fehler“ der Erwachsenen von Jugendlichen ausgebügelt werden sollen. Gute pädagogische Arbeit holt die Besucherinnen und Besucher, wie alt sie auch immer sind, in ihrem Denken ab. Sie schafft eine erweiterte Perspektive durch Information, ermöglicht Empathie durch Emotion und Konkretheit und gibt Impulse für den Wunsch, zu einem demokratischen und menschenrechtlich geprägten Miteinander beizutragen.

Noch einmal zurück zum Satz: „Ich war kein Held.“ Nehmen wir an, ein Osnabrücker Enthusiast sagt, wir sollten Calmeyer als jemanden darstellen, der aus einer klaren Haltung heraus Großes bewirkt hat.

Prinzipiell sollte man die Reihenfolge nicht verwechseln. Zunächst ist es wichtig zu beschreiben, was, wie und warum in welchem Kontext geschehen ist, bevor eine Wertung daraus abgeleitet wird. Anderenfalls könnte das Verständnis für die tragische Situation, in der sich Calmeyer befunden haben muss, verloren gehen. Die Kriterien für eine Ehrung durch Yad Vashem – um als Gerechter unter den Völkern zu gelten – sind sehr streng: Ein Polizist, der einerseits Menschen geholfen, ja sogar Priester gerettet hat, würde diese Zuschreibung nicht erhalten, weil er anderseits an Deportationen beteiligt war.

Was sieht, erlebt, lernt der Besucher demnächst in der Villa Schlikker?

Ich möchte ungern der Arbeit des Beirates vorgreifen. Ideen dazu hätte ich schon. In Münster hat sich gezeigt, dass es wichtig ist, mit dem Haus selbst und seiner Nutzung zu beginnen.

Am Schluss die Bitte um eine Satzergänzung: Wer Wissenschaft als kritische Analyse versteht, muss bei Calmeyer …

… methodisch genauso multiperspektiv vorgehen, wie bei anderen Biografien aus der NS-Zeit.

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