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Archiv-Artikel

König Winfried, der Zauderer

Winfried Kretschmann wollte die Bürger hören und beteiligen. Daraus ist bisher fast nichts geworden, sagt der Politikwissenschaftler Peter Grottian. Auch deshalb, weil es ihm die „Bewegung“ leicht gemacht hat. Mit Schuhen statt mit Ideen für eine andere Demokratie

von Peter Grottian

Hoffnungsträger sind in den letzten Jahren eher selten geworden – oder genauer: viele sind nach einem kurzem Höhenflug abgestürzt. Trotzdem hält sich klammheimlich im Volk die Vorstellung, eine einzelne Person könne die Geschicke des Gemeinwesens entscheidend gestalten und es schon irgendwie richten. „In schwierigen Zeiten in guten Händen“ lautet bei Merkel, Obama und Hollande die Akzeptanzformel, die mehr ein Bauchgefühl als ein urteilsfähiges Statement über die Politik ist. Aber im Volk gibt es dicht neben der Hoffnung auch eine große Verachtung für enttäuschende Hoffnungsträger. Wulff, Köhler, zu Guttenberg und Koch sind solche Beispiele. Wie verschieden auch die jeweiligen Abstürze aussehen. Und das Volk verachtet vor allem Politiker, die ihr postpolitisches Leben durch Arbeitgeber wie Putin, BMW oder teuerste Vermittlungsagenturen finanzieren lassen: Schröder, Fischer und Co. Fast immer sind die Heldendämmerungen männlich.

Der grüne Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Winfried Kretschmann, ist nach wie vor ein Hoffnungsträger. Mit nahezu 70 Prozent Zustimmung hat er in einem schwarzen Bundesland einen sensationellen Rückhalt in der Bevölkerung. Der 64-Jährige beeindruckt durch einen bodenständig-reformerischen Ansatz. Er praktiziert einen authentischen Politikstil und versteht sich so auszudrücken, dass ihn die Bürgerinnen und Bürger tatsächlich verstehen. Er hört zu, lädt Multiplikatoren ein, er diskutiert mit sympathischer Leidenschaft. Beim Tag der offenen Tür kann er Menschen begeistern.

Menschen wollen Politiker aus Fleisch und Blut

Mit seinem etwas spröden Charme macht er auch seine potenziellen Kritiker weich und sieht sich bisher nicht ernsthafter Kritik ausgesetzt. Er bringt es fertig, morgens bei Porsche aufzutreten und nachmittags das Gehörtwerden zu praktizieren – ohne Glaubwürdigkeitsflauten. Menschen wollen Politiker aus Fleisch und Blut. Wie Schröder/Fischer vom halsstarrigen und skandalversinkenden Kohl profitierten, glänzt Kretschmann auch deshalb, weil Mappus – übrigens nie Hoffnungsträger – etwas angerichtet hat, was die schwäbisch-badischen Tugenden grob verletzt: Das Geld der Bürger leichtfertig und am Gängelband einer Zocker-Bank zum Fenster hinauswerfen.

Winfried Kretschmann hat mit glaubwürdiger Überzeugung eine Demokratie des Gehörtwerdens proklamiert. In der Regierungserklärung von 2011 heißt es: „Die Zeit des Durchregierens von oben ist zu Ende. Diese Regierung wird eine Politik des Gehörtwerdens praktizieren. Für mich ist die Einmischung der Bürgerinnen und Bürger keine Bedrohung, sondern eine Bereicherung.“ Und im Koalitionsvertrag gibt es eine stimulierende Richtung: „Wir wollen Baden-Württemberg zum Musterland demokratischer Beteiligung machen“. Kurz: Man konnte erwarten, dass Kretschmann sich ins Zeug legt, die eher verstockte repräsentative Demokratie mit einer direkten Demokratie in eine andere Balance zu bringen. Es ist ja schon viel für einen Politiker, mehr auf das Gemeinwesen als auf den eigenen Vorteil zu setzen, bilanzierten die beiden Stuttgarter Journalisten Peter Henkel und Johanna Waidhofer-Henkel in ihrem lesenswerten Kretschmann-Buch.

Eine genauere empirische Analyse sagt aber anderes: Kretschmanns Demokratie des Gehörtwerdens ist bisher eher substanzlos beziehungsweise noch nicht einmal gute symbolische Politik. Nicht etwa, weil mächtige Interessengruppen, die Medien oder die Konkurrenz zwischen SPD und Bündnis 90/Die Grünen das vehemente Demokratieanliegen blockierten oder die CDU-Fraktion Kretschmann ernsthaft bedrängen würde. Nein, es liegt daran, dass Kretschmann selbst seine ursprünglich ambitionierten Ideen kaum zu realisieren versucht und seine Beraterstäbe ihn davon eher abhalten. Das alles ist von einer konfliktscheuen Bewegung gegen Stuttgart 21 flankiert, die noch nicht einmal wagt, ihr über den S-21-Streit hinausgehendes Demokratieinteresse für das Land zu formulieren und die Regierung an ihrem Demokratieversprechen kritisch zu messen. Diese Konstellation ist es, die keine kritische Debatte über die Demokratie des Gehörtwerdens zulässt. Die Landesregierung wurstelt dahin, die Bewegung gegen Stuttgart 21 schläft und leckt sich die Wunden, und die Medienöffentlichkeit hat alle Hände voll zu tun, eine lauernd-vorsichtige Berichterstattung über Grün-Rot mit dem desaströsen CDU-Mappus-Debakel zu kombinieren.

Die These von Kretschmanns bisher weitgehend leerem Versprechen zur Revitalisierung der Demokratie lässt sich schlüssig eher an den Unterlassungen als an brauchbaren Konzepten und Aktivitäten nachweisen.

Erstens: Kretschmann hat schon bei der Volksabstimmung zu Stuttgart 21 in Gestalt eines Gummilöwen und nicht als wirklich engagierter Ministerpräsident gehandelt. Zugespitzt: die Erlangung von Grünen-Macht war ihm schnell wichtiger als die glaubwürdige Vertretung des Stuttgart -21-Anliegens. Mitten im Volksabstimmungs-Wahlkampf über neun Tage mit Unternehmern eine Open-Door-Politik für die Wirtschaft in Südamerika zu unternehmen, ist schon ein merkwürdiges Stück. Da hätte man den Ministerpräsidenten lieber kämpfend auf den Markplätzen von Rottweil, Freiburg und Stuttgart gesehen. Einen Mitstreiter, der Demokratie vorlebt, sich auf die Bürgerinnen und Bürger wirklich einlässt. Stattdessen: Wir sind eher Ministerpräsident.

Zweitens: Das entscheidende Demokratieversagen Kretschmanns liegt aber in seinem moderationsabstinenten Verhalten nach den Kompromissvorschlägen von Heiner Geißler. Er hatte zwei dicke Chancen, das Heft des Handelns für einen Vermittlungsversuch in die Hand zu bekommen. Es wäre an ihm gewesen, die S-21-Gegner, die Bahn, die Stadt Stuttgart und die Landesregierung an einen Tisch zu bringen, um mögliche Kompromisse auszuloten. Aus dem Umfeld von Kretschmann wird glaubwürdig kolportiert, es fehlte Kretschmann und seinen Beratern damals an einer strategischen Orientierung. Kretschmann und die Gegner von S 21 haben sich wechselseitig verhandlungsstrategisch unterfordert. Dazu gehört die Blauäugigkeit einer Bewegung, die wider alle seriösen Umfragen dachte, sie hätte eine Mehrheit im Land oder zumindest in der Region Stuttgart.

Auch die zweite Chance hat Kretschmann nicht genutzt. Im September 2011 signalisierte eine seriöse Meinungsumfrage im Land, dass die erschöpften Menschen windelweich für Kompromisslösungen waren. 69 Prozent der Bürger und Bürgerinnen wollten den Vorschlag „Erhaltung des Kopfbahnhofs mit vier tiefergelegten Gleisen für die Fernzüge entlang der S-Bahn-Gleise“ ernsthaft verhandelt sehen. Trotz großer Publizität des Kompromisses, Kretschmann blieb untätig und folgte nicht dem gut gemeinten Ratschlag, solange mit seinen Kontrahenten im Kloster Maulbronn zu verhandeln, bis guter Wein ausgegeben werden und eine weiße Rauchfahne aufsteigen konnte.

Drittens: Die Demokratie des Gehörtwerdens kommt nicht wirklich in die Gänge. Natürlich ist die Vorstellung blauäugig, eine einzelne Person könnte allein sehr viel bewegen. Kretschmann war von Anfang an mit einer Ministerialverwaltung konfrontiert, die mehr als 50 Jahre konservativ dominiert war. Da kann ein Ministerpräsident zwar seine Umgebung mit neuen Leuten seines Vertrauens besetzen, aber neue Regierungschefs in Bund und Ländern haben nach dramatischen Regierungswechseln immer auch gut daran getan, keine personalpolitischen Blutbäder anzurichten. Sie setzten auf eine gewisse Loyalität und einen nicht geringen prinzipienfesten Machtopportunismus der Ministerialbürokratie. So war es bisher auch bei Kretschmann, der sich sogar für offenkundige neugierige Loyalitätsbereitschaft bei seinen Beamten bedankte.

Gisela Erler lässt kein wirkliches Konzept erkennen

Viertens: Für seine Politik des Gehörtwerdens engagierte er eigens eine streitbare, erfahrene Politikerin und Wissenschaftlerin: Gisela Erler, Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung im Kabinettsrang. Sie arbeitet mit einem innovativen Stab, der nicht der üblichen Verwaltung entstammt, sondern unterschiedliche Erfahrungen mit partizipativen Bürgerschaften einbringt. Nach mehr als einem Jahr Aufbauarbeit ist ein wirkliches Konzept aber nach wie vor nicht zu erkennen. Der Beobachter hat den Eindruck, dass Gisela Erler zwar sehr viel von Geschlechterdemokratie und Familienpolitik versteht, aber ihre Vorstellungen darüber, wie die repräsentative Demokratie durch mehr direkte Demokratie neu balanciert werden könnte, eher vage und hilflos sind. Schlimmer: Es drängt sich der Eindruck auf, dass sie mit der Demokratie des wirklichen Gehörtwerdens wenig am Hut hat.

Zwar hat ihre Projektgruppe eine Allianz für Beteiligung der Engagierten aus Schulen, Hochschulen, Unternehmen und Initiativen auf den Weg gebracht, das als „unabhängiges, dynamisches und selbsttragendes Netzwerk“ konzipiert ist. Schaut man die Einladungslisten durch, dann sind die etablierten mittelstandsorientierten Gruppen gut vertreten, aber das wirklich kritische Demokratiepotenzial der oft auch zu recht zornigen Bürger kommt nur in Spurenelementen vor: Gegner von Stuttgart 21, die Initiative zur Rheintal-Strecke, aufmüpfige lokale und regionale Initiativen. Die Allianz ist so staatsintegrierend von oben konzipiert, trotz aller Beteuerungen zu einem selbstragenden Netzwerk. Zugespitzt: Die Demokratie des Gehörtwerdens ist ein diffuses Konzept von oben und keine Ermutigung von unten.

König Winfrieds schwäbischer Absolutismus

Die Angst vor schwäbisch-badischer Radikalität – die ja nur radikal erscheint – durchzieht alle Aktivitäten. Alles ist bisher eher ein charmant daherkommender schwäbischer Absolutismus, verkörpert durch König Winfried, den Zauderer.

Wo sind die Bürgerkonvente in den Städten und Gemeinden, die sich selbst einen Kopf über das Mehr an Demokratie machen? Wo ist ein kritischer Diskurs über Bürgerhaushalte und individuelle Grundrechte auf Wasser, Bildung, Energie und Mobilität? Wo bleibt der Anstoß für eine neue Kommunal- und Landesverfassung, die nicht nur mit Bürgermisstrauen vollgestopft sind, sondern die Partizipation lebendig werden lässt? Kretschmann betont sein Interesse an demokratiegerechteren Verfassungen – aber sichtbar ist das Bemühen noch nicht. Baden-Württemberg gehört zu den drei Bundesländern mit den bürgerfeindlichsten Landesverfassungen der Republik.

Wo ist nach den Erfahrungen von Stuttgart 21 und der jetzt besser verlaufenden Bürgerbeteiligung bei der Rheintal-Bahn die ermunternde Konzeption für infrastrukturelle Großprojekte? Wer Vertrauen zu den S-21-Gegnern herstellen will, der muss den ernsthaften Versuch machen, über die Demokratievorhaben wieder ins Gespräch zu kommen. Da ist bisher noch nicht einmal das kleinste Blümchen zu sehen – erhebliche Berührungsängste auf beiden Seiten. Zum Demokratiekongress der Stuttgart-21-Gegner konnte Gisela Erler nicht gewonnen werden, und auf ihrem Demokratiekongress ließ sich die Bewegung nicht blicken. Kurzum: Es fehlt an konkreten Vorstellungen, die Bürgerinnen und Bürger in einen großen Ermutigungs- und Selbstermächtigungsprozess zu mehr Demokratie zu stimulieren.

So gesehen ist mehr als ein Jahr verronnen und Kretschmanns Politik des Gehörtwerdens droht zum leeren Versprechen zu verdorren. Seine Glaubwürdigkeit für demokratisches Gehörtwerden steht auf der Kippe. Aber die Glaubwürdigkeit der vielen Demokratie-Initiativen steht gleichermaßen auf dem Spiel, die Kretschmanns Politik bisher nur mit ein paar drohenden Schuhen und wenig Vorstellungen von einer anderen Demokratie im Land konfrontierten. Im März 2012 hat der Hoffnungsträger gesagt, auch eine grün geführte Regierung mit vielen Ideen koche nur mit Wasser. Mit dieser Formulierung schlägt er die gute Idee einer Demokratie des Gehörtwerdens weit unter ihrem Wert.

Peter Grottian (70) war von 1979 bis 2007 Professor für Politik an der Freien Universität Berlin. Dort konnte es Studenten passieren, dass sie keinen Schein erhielten, wenn sie ihm zu angepasst erschienen. Grottian sitzt unter anderem im wissenschaftlichen Beirat von Attac und ist Mitglied im Komitee für Grundrechte und Demokratie. Mit Stuttgart 21 hat er sich schon früh in Kommentaren und Reden beschäftigt.