Kolumne Nachbarn: Die syrische Küste in der Nase

Die Flucht aus Syrien bleibt im Kopf. Wälder, Felder, Flüsse und Seen können mein Gedächtnis wenigstens manchmal ein bisschen besänftigen.

Kraniche fliegen über einen Wald in der Dämmerung

Wenn Brandenburgs Wälder an mir vorbeirauschen Foto: dpa

Wir waren auf der Flucht, mein Freund, über den ich bereits in früheren Kolumnen schrieb, und ich, in der Hoffnung, nicht von den Sicherheitskräften aufgegriffen zu werden. Er lenkte den Wagen und fuhr eher langsam, während ich schweigend im Beifahrersitz versunken war. Durch das offene Fenster streichelte eine nach Meer und Zedern duftende Brise mein Gesicht.

Auf einer bezaubernd schönen Strecke fuhren wir an einem Ort an der syrischen Küste vorbei, auf der einen Straßenseite das Meer, auf der anderen Zedernwälder. Mein Herz schlug für das Land, das ich nicht aus freien Stücken verlassen wollte; die Sorge um das Leben schwebte über mir.

Plötzlich durchbrach mein Freud die Stille mit der Frage: „Weißt du, dass ich, so lange ich lebe, diese Land nie verlassen werde?“ Ohne meine Reaktion abzuwarten ließ er das Lied Halwa ya baladi laufen, „Schön bist du, mein Land“. Ich weinte vor Kummer und Liebe zugleich, während mein Freund aus Verlegenheit laut mitträllerte: „Schön bist du, mein Land“.

Nur wenige Tage später wurde wir beide in „unserem schönen Land“ gefasst und kamen ins Gefängnis. Ich kam später frei, er blieb drin. Das einzige, was ich in den sechs Jahren seitdem erfuhr, war, dass er vor zwei Jahren starb. Diese Nachricht wurde von keiner offiziellen Stelle je bestätigt oder dementiert. Sicher ist, dass er sein Versprechen gehalten hat: Er hat das Land nicht verlassen.

Der Duft der Wälder

Ich sitze gerade im ICE und fahre durch Brandenburg an Wäldern vorbei; Erinnerungen rütteln mich wach. Schade, dass sich die Fenster nicht öffnen lassen; gern würde ich den Duft der Wälder einatmen und mein Gedächtnis damit vielleicht etwas besänftigen.

Ich höre zurzeit keine Lieder mehr über mein verlorenes Land, ich will keine Sehnsucht mehr haben. Ich höre auch keine Nachrichten mehr und kann keine Reportagen mehr über den elenden Zustand syrischer Flüchtlinge, über die Toten und die brennenden Weizenfelder sehen. Ich lebe nur noch mit der Hoffnung, dass dieses Elend bald ein Ende finden möge.

Der Zug fährt immer noch schnell, die Brandenburger Wälder rauschen in die umgekehrte Richtung an mir vorbei und ich bin zwischen Zug und Wäldern hin und her gerissen. Der Verlust scheint immer zu siegen.

Wälder, Felder, Täler, Flüsse, Bäche, Seen, Sonne, Mond und Regen üben stets eine große Anziehungskraft auf mich aus. Sie erwecken mein Gedächtnis und vergegenwärtigen meine Erinnerungen. Was ich vergessen will, wird präsent, die Vergangenheit holt mich zurück und mein Land zerrt an mir. Ich versuche die Flucht nach vorne zu ergreifen, arbeite viel und reise öfters bis zur Erschöpfung. Und ich frage mich: „Nimmt man das Vaterland an den Schuhsohlen mit?“

Aus dem Arabischen von Mustafa Al-Slaiman

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Kefah Ali Deeb wurde 1982 in Latakia, Syrien, geboren und ist 2014 nach Berlin geflohen. Sie ist bildende Künstlerin, Aktivistin und Kinderbuchautorin, außerdem Mitglied des National Coordination Committee for Democratic Change in Syrien.  

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