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Selbstgespräch über die Schönheit der Veränderung

Wie ist es möglich, sich neu zu erfinden? Der französische Autor Édouard Louis sprach darüber in der Mosse Lecture „Sprachen des Politischen“ an der Humboldt-Universität

Von Jan Jekal

Die Studierenden strömen in den Saal, alle Plätze sind schnell besetzt, selbst Mittelgang und Fensterbank. Der Hinweis, dass eine Etage höher eine Videoübertragung angeboten wird, interessiert nicht: Édouard Louis, den jungen französischen Starautor, möchten alle live sehen, also bleibt der Senatsaal der Humboldt-Universität randvoll. Für ein wenig räumliche Entspannung sorgt der Gast selbst: „Édouard Louis hat angeboten, dass auch die Bühne besetzt werden darf“, ganz im Geist der Achtundsechziger.

In seinen einleitenden Worten arbeitet Lothar Müller, Literaturredakteur der Süddeutschen Zeitung, als wesentliche Sujets in Louis’ Werk die Familie, Gewalt, Sex und Macht heraus, und schlägt vor, sich diese Themen nicht als isolierte Entitäten vorzustellen, sondern als einen großen Komplex, wie auf einem Parallelogramm angeordnet, bei dem alles zusammenhängt. Die Familie sei zum Beispiel auch eine Quelle der Gewalt. Im Falle des schwulen Louis steht sie für ein homophobes „Lumpenproletariat“ (Louis’ Wortwahl), aus dem er fliehen musste, gegen das er sich neu erfinden musste.

Ein Akt der Selbstermächtigung mit größter Symbolkraft war die Änderung seines Namens: Den Nachnamen „Bellegueule“ – der ihn nicht nur an seine Familie band, sondern ihn sofort als Sprössling der Unterschicht entlarvte und zu allem Überfluss „schöne Fresse“ bedeutet – ersetzte er durch „Louis“, den Zweitnamen seines „besten Freundes“ und Mentors Didier Eribon, der auch im Publikum sitzt; aus seinem Vornamen „Eddy“ machte er das feinere „Édouard“.

So ist es an diesem Abend hinter ihm auf der Leinwand zu lesen: „Édouard Louis“. Keine Spur von Eddy Bellegueule. Er hat es also geschafft: Aus einer bildungsfernen Landfamilie ins Pariser Bildungsbürgertum, aus dem Prekariat in die Bourgeoisie, und jetzt steht er am Rednerpult, im Senatsaal der Humboldt-Universität, im hellblauen Hemd und mit sauberem Scheitel, und berichtet den Studierenden von seiner Verwandlung, der Neuerfindung seiner Person. Er klingt dabei wie der weit gereiste Ureinwohner eines fernen Landes, das die Zuhörer nie gesehen haben und nie sehen werden. Sein Vortrag ist in der Form von Tagebucheinträgen gehalten, ein Selbstgespräch über die Schönheit der Veränderung, und über die Kräfte, die die Veränderung zu verhindern versuchen. „Für mich wirst du immer Eddy bleiben“, habe ihm jemand aus seinem Heimatdorf gesagt, nicht einmal böse gemeint.

Seine nun privilegierte Stellung wolle er dafür nutzen, die Welt der Privilegien anzufechten

„Changing: On Self-Reinvention and Self-Fashioning“ ist der Titel seines in englischer Sprache gehaltenen Vortrags, und „Self-Fashioning“, also die Stilisierung der eigenen Person, ist ein entscheidender Begriff: In Anlehnung an den Soziologen Pierre Bourdieu betont Louis, dass Klassenunterschiede auch durch Alltagspraktiken aufrechterhalten werden und Klassenzugehörigkeit durch Geschmacksvorlieben signalisiert wird. Die Vorlieben der herrschenden Klasse seien dabei automatisch legitim oder (im positiven Sinne) auch mal gewagt, wohingegen der Geschmack der Armen per definitionem schlecht sei. Er erzählt die rührende Anekdote, wie er, bei „Didier“ zu Hause eingeladen und ermutigt, ein wenig Musik anzumachen, das Brahms-Requiem anspielte, weil er dachte, das würde jetzt von ihm erwartet.

Identitätsfindung und -festigung, sagt er an anderer Stelle, passieren ex negativo; man definiere sich in erster Linie über das, was man nicht ist oder nicht sein will. Der Widerspruch, der im Laufe der Vorlesung zutage tritt, ist nun der, dass er selbst auf der einen Seite die größtmögliche Anstrengung unternimmt, bloß nicht für arm und provinziell gehalten zu werden, er sich aber andererseits mit den Armen solidarisieren möchte. Seine nun privilegierte Stellung wolle er dafür nutzen, die Welt der Privilegien anzufechten. Es bleibt allerdings unklar, was das heißen soll. Wahrscheinlich das Schreiben von Büchern über sich selbst. Was bedeutet es dann, dass diese Bücher in erster Linie von Leuten wie Édouard Louis und weniger von Leuten wie Eddy Bellegueule gelesen werden?

Er erzählt von einem Restaurantbesuch mit Kollegen aus dem Literaturbetrieb und wie eine Kellnerin in seiner Gegenwart herablassend behandelt wurde und wie er ihr seine Verbundenheit habe ausdrücken wollen. „Ich bin auf deiner Seite“, habe er ihr sagen wollen. „Ich bin wie du.“ Er hat sich aber nicht überwinden können, etwas zu sagen. Wahrscheinlich hätte sie ihm sowieso nicht geglaubt. Auch das gehört zu einer Verwandlung: Einst abgeschlossen, lässt sie sich nicht rückgängig machen.

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