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Ausgehen und rumstehen von Sophia ZessnikBrezeln für Rammstein, Rammstein über allen

In Berlin haben die Sommerferien begonnen: Was sich zu Schulzeiten wie pure Freiheit anfühlt, versinkt irgendwann in der Bedeutungslosigkeit, bis es einen wieder einholt, weniger frei, dafür mit Urlaubszwang, denn der familiäre Zuwachs möchte auch in schul- und kitafreien Wochen betreut werden.

Dass ein Großteil meiner Freunde trotz Studentendasein und Fehlen von Nachwuchs ausgeflogen ist, empfinde ich als persönliche Beleidigung. Ich soll doch ausgehen und rumstehen. Obwohl ich bereits vieles allein kann – wohnen, handwerkliche Tätigkeiten, sofern ein paar Löcher in der Wand mehr nicht stören, Ein-Frau-Portionen kochen – mit mir selbst und niemandem sonst ausgehen gehört nicht dazu.

Immerhin, an diesem Freitag ist Fête de la Musique, und im Gegensatz zu sonst bin ich frühzeitig darauf aufmerksam geworden. Fest entschlossen, wenigstens einer der unzähligen Veranstaltungen beizuwohnen, starte ich in den frühen Freitagabend. Keine vier Häuser von mir entfernt, im Kallasch&, ist die Fete bereits voll im Gange. Man sitzt, man steht, man plaudert, und nebenbei eben Musique. Leicht melancholisch singt eine Australierin von unerwiderter Liebe. Matilda Abraham, CDs hat sie im Gepäck, für diejenigen, die noch ein passendes Abspielgerät besitzen. Für alle anderen ist sie auf Spotify zu finden. Die Stimmung ist etwas zu ausgelassen für die sanften Töne, die Freude über den regenlosen Abend macht das Zuhören schwer. Ich habe außerdem Gesellschaft bekommen, deren Magen ungefähr genauso laut knurrt wie meiner. Dagegen hilft nur Falafel, also ab zu Humbaba in der Turmstraße.

Obwohl der Abend lang ist und die Möglichkeiten unendlich scheinen, erwischt mich nach dem Essen diese unbändige Müdigkeit, die bei Anfang Zwanzigjährigen noch von der Fomo in Schach gehalten wird. Ich befinde mich schon jenseits der Angst, etwas zu verpassen, und gehe gelassen ins Bett.

Am Samstag wecken mich die immer gleichen Töne musizierender Menschen, die vormittags den Kiez beschallen. Ich muss ohnehin aufstehen und (r)ausgehen, denn heute bin ich Brezelverkäuferin. Der Ort: das Olympiastadion. Der Anlass: Rammstein in concert. Bereits in der S5 werde ich von ersten Fangruppierungen umringt, fünf Stunden vor Konzertbeginn. Schwarz ist hier das Fashionstatement, eigentlich wie überall sonst in Berlin. Same, same, aber doch anders: Tattoos und Tunnel gehören ebenso zur Grundausstattung wie ausrangierte Ray-Ban-Modelle, also doch keine Hipster.

Unter den BrezelverkäuferInnen scheint die Fandichte gering, dennoch herrscht Freude bei denen, die im Innenraum verkaufen dürfen. Auch ich gehöre dazu. Bewaffnet mit Oropax, betreten wir die Arena und postieren uns. Was dann passiert, ist schon ein Spektakel für sich: 500 Hardcorefans fluten das Feld, sprinten um ihr Leben oder das, was für sie darin am erstrebenswertesten scheint: die erste(n) Reihe(n)! So viel Fantum ist mir fremd, die Begeisterung aber irgendwie ansteckend. Ich bin gespannt auf das, was kommt. Zunächst sind das knapp 66.000 Menschen, gefühlt die Hälfte hat Hunger. Mein Brezelwagen und ich werden stark frequentiert, bilden aber eine gesicherte Enklave im Meer schwarzer Fanshirts.

Als Rammstein endlich die Festung einnehmen, die ihnen knapp zweieinhalb Stunden eine Bühne bieten soll, ist um mich herum kein Halten mehr. Auch ich hab Gänsehaut und weiß nicht so recht, woran es liegt: an dem brachialen Sound, den pyronalen Superlativen oder einer merkwürdigen Art von zu beobachtendem Konsens!? Wer auch immer hier was wählt, für diese paar Stunden ist man sich hier wenigstens einer Sache einig: Rammstein. Trotz aller Toleranz kann ich mich dem merkwürdigen Gefühl nicht entziehen, das aufkommt, wenn über 60.000 Menschen „Deutschland, Deutschland über alleN“ singen. Im Olympiastadion, wohlgemerkt!

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