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Chaos und Disziplin

Bebop, Freejazz, Swing: 1993 kehrte der Jazzavantgardist Sun Ra zu seinem Heimatplaneten Saturn zurück. Das Sun Ra Arkestra um den mittlerweile 95-jährigen Musiker Marshall Allen blieb aber bestehen und setzt seither Sun Ras Suche nach dem Sound des Friedens fort

Von Stephanie Grimm

Sun Ra, Jazzinnovator, legendärer Bandleader und einer der tollsten Außerirdischen der Musikgeschichte, ist zwar schon seit über 25 Jahren tot. Beziehungsweise im Jahr 1993 zum Planeten Saturn zurückgekehrt, den er ja zu seiner Heimat erklärt hatte. In irdische Niederungen hatte sich der Mann, der sich seinen Namen vom altägyptischen Sonnengott geliehen hatte, nach eigenem Bekunden ja sowieso nur begeben, um der Menschheit Frieden zu bringen. Die Zukunft, erst recht die von afrikanischstämmigen Menschen, sah er jenseits von dieser desolaten, rassismusverseuchten Welt. Sun Ra war eines der schillerndsten Aushängeschilder dessen, was Kulturwissenschaftler später, seit den 1990er-Jahren, als Afrofuturismus bezeichnen sollten: eine kulturelle Ästhetik, die Science-Fiction-Elemente, Afrozentrismus, magischen Realismus und einiges mehr zu einer Mischung zusammenführte, mit der die Afrodiaspora unter anderem eine Antwort auf den strukturellen Rassismus der Mehrheitsgesellschaft finden wollte.

Friedensbringende Missionen braucht die Welt heute mehr denn je. Nicht nur deshalb muss man dankbar sein, dass Ras langjähriger Wegbegleiter, Marshall Allen, das Sun Ra Arkestra weitergeführt. Hat. Und bis heute mit mitreißender Leidenschaft dabei ist. Bemerkenswert ist das auch vor dem Hintergrund, dass Allen in der vergangenen Woche, am 25. Mai, seinen 95. Geburtstag feierte.

Angesichts seines hohen Alters kürzer zu treten, scheint Allen nicht in den Sinn zu kommen. Gleich zweimal innerhalb der letzten beiden Jahren durfte ein euphorisiertes Publikum im Festsaal Kreuzberg erleben, wie das 12-köpfige Ensemble harten Bebop, verstiegenen Freejazz, traditionell anmutenden Swing und Melodien, die ebenso irgendwie einem Broadway-Musical entstammen könnten, zu einer eigenen Mischung fusionierte. Und damit wiederum auch verschiedene Phasen in Sun Ras Laufbahn zu einem stimmigen Ganzen zusammenführte. Auch zu gucken gibt es bei den Auftritten des Arkestras immer noch etwas: Der exzentrisch-afrofuturischen Ästhetik seines Gründers, der das Ensemble als Showband sah, die auch visuell etwas bieten sollte, ist das Sun Ra Arkestra treu geblieben.

Allen spielte 36 Jahre sein Saxofon neben Ras Piano. Dass er Sun Ras musikalische Ideen oft nicht auf Anhieb verstand, daraus macht Allen keinen Hehl. Überhaupt strahlt er eine gewisse Bodenständigkeit aus, die dem von vielen für genial befundenen, von manch aber auch der musikalischen Scharlatanerie bezichtigten Gründer der Band eher abging. Faszinierend bei den gegenwärtigen Auftritten des Sun Ra Arkestras ist vor allem der Spagat, den die Band hinbekommt: wie Allen und seine Mitmusiker sich auf Ausschweifungen verstehen und trotzdem die Stücke vorantreiben, eine beeindruckende Mischung aus Chaos und Disziplin.

Der Weg, wie Allen in diesem Universum landet, ist einigermaßen verschlungen. Im Zweiten Weltkrieg war der in Kentucky geborene Allen in Frankreich stationiert. Zunächst spielte der Multiinstrumentalist in Armeebands. Nach Kriegsende blieb er zunächst in Paris, studierte Saxofon und spielte unter anderem mit dem Jazzpianisten Art Simmons.

Nach seiner Rückkehr in die USA hörte Allen, dass Sun Ra, der damals noch Teil der Chicagoer Jazz-Szene war, auf der Suche nach neuen Musikern und Ideen war und nahm Kontakt auf. Als er 1958 auf ihn traf, stellte das Allens Welt gehörig auf den Kopf – nicht nur seine musikalische. Nachdem Sun Ra ihm über einige Abende hinweg Vorträge über das alte Ägypten, das Weltall, die Bibel und was eben sonst noch so zu seiner Philosophie gehörte, gehalten hatte, rekrutierte er ihn als Flötist. Obwohl Allen ihn wissen ließ, dass er dieses Instrument doch gar nicht beherrsche. Er nahm daraufhin Unterrichtsstunden.

„Was ich studiert und bisher gelernt hatte, spielte bei ihm keine Rolle“, erklärte Allen 2015 in einem Interview mit der Financial Times. „Dafür tat er Dinge, von denen ich keine Ahnung hatte.“ Bald sollt er auch bei Sun Ra Saxofon spielen. Später kam dann auch das EWI dazu, ein elektronisches Blasins­trument, das passend zur „Space-Is-The-Place“-Programmatik des Arkestras tatsächlich sehr spacemäßig klingen kann. Schon in den sechziger Jahren war das Ensemble auf der Suche nach Klängen, die so klingen sollten, als seien sie nicht von dieser Welt –, und überforderte das Publikum damit nicht selten.

Mitglied des Arkestras – übrigens ein Kofferwort aus Arche und Orchester – zu sein, war mehr als ein Vollzeitjob, das Projekt hatte bisweilen durchaus sektenartige Züge. Nicht nur spielten sie Tag für Tag zusammen, sondern wohnten bald auch in einem Haus zusammen nach dem Umzug nach Philadelphia – in dem dreistöckigen Haus, das Allen von seinem Vater überlassen bekam.

Für Nebenprojekte blieb da wenig Zeit. Das ist heute anders. Mit dem Arkestra probt Marshall an drei Tagen die Woche. Und hat nebenbei Luft, mit Musikern anderer Generationen und Genres zusammenzuarbeiten, mit dem Psychedelik-Elektroniker Caribou, der mittlerweile aufgelösten Post-Punk-Band Sonic Youth oder auch der Detroit-Techno-Legende Carl Craig, der wiederum mit Sun Ras Ex-Schlagzeuger Francisco Mora-Catlett und dem Innerzone Orchestra in den späten 90er Jahren den Free Jazz gefeiert hatte. Am Montagabend gilt es jedoch erst einmal, Marshall Allen und das auch dank ihm immer noch ziemlich überwältigende Sun Ra Arkestra zu feiern.

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