: Schicksale vom Zaren bis zu Putin
Zum Dissidenten gemacht: Kirill Serebrennikows Inszenierung „Wer lebt glücklich in Russland?“ bei den Autorentheatertagen
Von Katja Kollmann
„Wer lebt froh und frei in Russland? Wer hat das beste Los?“, schreit ein Reporter in die Männerrunde und hält Iwan aus Hungershausen aufdringlich ein Mikrofon unter die Nase. Der russische Dichter Nikolai Nekrassow hat sich diese Fragen nach der Abschaffung der Leibeigenschaft im Jahr 1861 gestellt und bis zu seinem Tod 1878 an dem Poem „Wer lebt glücklich in Russland?“ gearbeitet. Es blieb unvollendet und umfasst doch mehr als 8.000 Verse. Nekrassows Bauern geben in der Epoche verankerte Antworten: ihnen zufolge sind der Gutsherr, der fette Kaufmann, der Pfarrer und der Zar die Hauptprofiteure der damaligen Gesellschaftsordnung.
Der Theaterregisseur Kirill Serebrennikow hat das Verspoem 2015 in Moskau inszeniert. Es ist das Jahr, in dem er durch seine Kritik an der Annexion der Krim seinen Status als Liebling der Moskauer Kulturpolitik verlor und zum Dissidenten wurde. Der Leiter des Gogol Centers fuhr damals mit seiner Truppe nach Jaroslawl an der Wolga. Nekrassow fand dort im späten 19. Jahrhundert die Vorbilder für seine Figuren: verarmte, rechtlose Bauern. Im Jahr 2015 trifft Serebrennikow dort auf aussterbende Dörfer.
Im Rahmen von „Radar Ost“, dem internationalen Auftakt der „Autorentheatertage“ am Deutschen Theater, wird das fast vierstündige Gesamtkunstwerk nun das erste Mal in Berlin gezeigt. Serebrennikow bedient sich der Originalverse Nekrassows, seine SchauspielerInnen geben ihnen eine Unmittelbarkeit, die die Figuren im Heute verankert. Serebrennikows Bühnenfiguren sind zeitlose Wanderarbeiter in abgerissenen Wattejacken, die sich nur einmal für ein Fest beim Gutsherren schön machen. Sie ziehen sich verblasste, eigenartig gemusterte Pullover über und setzen sich viereckige, übergroße Hornbrillen auf.
Es ist, als wäre der Sowjetmensch wieder auferstanden. Klug spannt Serebrennikow den Bogen von der späten Zarenzeit über die Sowjetunion bis zur Gegenwart, um Kontinuitäten offenzulegen. Der Soundtrack zur Inszenierung spielt dabei eine wichtige Rolle. Begleitet vom Keyboard intoniert die Sängerin Rita Kron sowjetische Heimatlieder und reproduziert das triefende Pathos der Originalaufnahmen. Der Unterschied zum Bühnengeschehen könnte nicht größer sein: auf einer Gaspipeline, die quer über die Bühne gezogen ist, sitzen abgerissene Gestalten vor einer Gefängnismauer – sie scheinen schicksalhaft an ihre Wirklichkeit gekettet zu sein. Sie können sich selbst nicht befreien, obwohl es zum Beispiel eine kleine Tür in der Gefängnismauer gibt. Und flüchten sich stattdessen in Alkoholexzesse und Gewalt.
Nach der Pause ist die Gefängnismauer an die Seite gerückt. Die Pipeline ist zerstückelt, von der Decke hängt ein dickes Seil fast bis zum Boden. Die ganze Bühne ist jetzt bespielbar und erscheint als Freiraum. Es ist aber ein Gefängnisinnenraum, in dem sich die Schauspieler zur oft expressiven, manchmal meditativen Musik von Ilja Demuzki spielerisch aufeinander stürzen, sich gegenseitig tragen und dann zusammen das Seil von der Decke reißen. Sie werfen das Seil aber nicht fort, sondern halten sich erst mal daran fest.
Ohne Seil liegen sie – begleitet von Nekrassows Soldatenlied „Welt, verschwinde! ’s gibt kein Brot, kein Zuhause, keinen Tod“ – auf dem Rücken und strecken die Hände wie Ertrinkende nach oben in der Hoffnung auf eine starke Hand, die sie wieder auf die Füße stellt. Aber es regnet in Strömen vom Schnürboden herab, und Ausrutschen ist nun unausweichlich.
Zwei Schauspieler mit Clownsnasen ziehen nun mit einem Wodkaeimer in der Hand durch den Zuschauersaal und suchen vor Ort nach glücklichen Menschen – Verliebtsein geht als Glücklichsein durch und wird mit einem Wodkaschluck belohnt, der Satz „Ich bin ein spiritueller Mensch“ aber wird mit Hohn quittiert. Dann betritt Jewgenija Dobrowolskaja die Bühne und erzählt vom „Glück“ einer Frau. Sie steht am Bühnenrand und verkörpert Matrjona Kortschagina. Nekrassows Verse berichten vom Leid einer Bäuerin in einer patriarchalen Feudalgesellschaft. Im Kontext dieser vielschichtigen Inszenierung bauen sich automatisch Verbindungen zu anderen Zeitebenen auf. Matrjona Kortschaginas Schicksal wird so zum Archetypus.
Am Schluss zieht sich jeder Schauspieler viele T-Shirts über. T-Shirts, die von UdSSR-Nostalgie und Putin-Personenkult erzählen. Dann aber hat jeder Schauspieler das „Free Kyrill“-T-Shirt an. Das war bei der Premiere in Moskau vor vier Jahren gewiss noch anders. Kirill Serebrennikow befand sich bis vor zwei Monaten im Hausarrest. Er kann sich momentan nur in Moskau frei bewegen und hat den Berliner ZuschauerInnen eine Videobotschaft gesendet.
Die Autorentheatertage dauern noch bis 8. Juni. Nach dem Eröffnungswochenende mit Gastspielen aus Moskau, Prag, Budapest, Kiew und Minsk geht es am 30. Mai weiter mit Inszenierungen u. a. aus Wien, Zürich, Graz und Leipzig
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