: Nun singen sie wieder
In keiner anderen Metropole fühlt sich die Nachtigall so wohl wie im schmuddeligen Berlin,wo Parkanlagen verwildern und schützendes Gestrüpp an S-Bahn-Trassen wuchert
Von Andrew Müller
Mitten in der Frühlingsnacht dringt der Gesang der Nachtigall durchs Gebüsch. Laut schmetternde, leise klagende, wehmütig schluchzende Sequenzen wechseln einander ab, dazwischen sind wirkungsvolle Pausen gesetzt. Bekommt man die versteckt lebende Nachtigall ausnahmsweise zu Gesicht, wirkt ihr feines, aber unscheinbar bräunliches Gefieder im Kontrast zu ihrer manischen Musikalität wie ein beinahe anrüchiges Understatement. Singt sie so schön, um ihr langweiliges Äußeres zu kompensieren?
Der Gesang der Nachtigall hat ganze Scharen von Künstlern beeindruckt und Spuren in ihren Werken hinterlassen. Der englische Romantiker Shelley sagt: „Ein Dichter ist eine Nachtigall, die in der Dunkelheit singt, um ihre eigene Einsamkeit durch süße Töne aufzuheitern.“
Dabei ist die Sache ornithologisch betrachtet profan. Das Nachtigall-Männchen singt lockend nachts, weil das die Hauptaktivitätsphase der Weibchen ist, und tagsüber, um sein Revier zu verteidigen. Womöglich gibt der kleine Vogel gerade wegen dieses Kontrasts eine prächtige Projektionsfläche für die Fantasien und Sehnsüchte seines Menschenpublikums ab. Ähnlich romantisch-paradox mag es anmuten, dass das Tier ausgerechnet Berlin liebt. „In keiner anderen Metropole gibt es eine größere Dichte an Nachtigallen“, sagt die Ornithologin Silke Voigt-Heucke. „Hier brüten jedes Jahr mindestens 1.500 Paare, die Population ist stabil, wenn nicht sogar wachsend.“
Zum einen sind die klimatischen Bedingungen in Berlin perfekt – die Nachtigall fühlt sich im milden Tiefland wohl und hat dort die besten Bruterfolge, wo es weder zu trocken noch zu feucht ist. Zum anderen hinterlassen die mageren Budgets der Grünflächenämter verwilderte Flächen, ungepflegte Parkanlagen und überwucherte S-Bahn-Trassen. Das bietet der Nachtigall Raum zum Balzen, Brüten und Futtersuchen.
Der Vogel
Die Nachtigall (Luscinia megarhynchos) ist ein etwa sperlingsgroßer Singvogel. Der nächtliche Balz- und der tagsüber erklingende Reviergesang verstummen nach einigen Wochen wieder. Die Nachtigall überwintert in Afrika und fliegt jeden Frühling in ihre asiatischen und europäischen Brutgebiete. Sie ernährt sich von Insekten und ihren Larven, im Spätsommer frisst sie auch Beeren. Im August geht es schon wieder zurück gen Süden.
Der Mensch
Wer die Nachtigall mit erforschen möchte, kann dies per Smartphone-App im Rahmen des Bürgerforschungsprojektes „Forschungsfall Nachtigall” des Berliner Museums für Naturkunde tun: www.museumfuernaturkunde.berlin/. Hier finden sich auch zahlreiche Veranstaltungshinweise.
Erstaunlich ist, dass sie sich von heulenden Autobahnen, wummernden S-Bahnen und dem anderen Stadtlärm nicht einschüchtern lässt. Man kann sogar den Eindruck bekommen, dass sie das Großstadtgetöse eher als lustvolle Herausforderung betrachtet und dadurch angestachelt wird, noch lauter und kunstvoller zu singen. Aber das ist schon wieder eine eher poetische Theorie, ohne wissenschaftliche Grundlage. Bestätigt werden könnte sie trotzdem eines Tages. Das verwilderte Berlin hat nämlich auch eine solide Tradition als Ort der Nachtigallenforschung.
Seit letztem Jahr läuft am Berliner Naturkundemuseum das Projekt „Forschungsfall Nachtigall“, dessen Leiterin Silke Voigt-Heucke ist. Initiiert wurde es maßgeblich von Sarah Darwin, Künstlerin, Biologin und Ururenkelin von Charles Darwin. Als sie vor ein paar Jahren aus England in die deutsche Hauptstadt zog, war sie überrascht vom nächtlichen Gesangsgewitter im Berliner Unterholz. In Großbritannien ist der Bestand der dort ohnehin selteneren Nachtigall seit den 1970ern um über 90 Prozent zurückgegangen – nicht zuletzt, weil die englischen Parks zu gut gepflegt sind.
Das nahm die aktuelle Umweltbewegung Extinction Rebellion als Anlass für eine Protestaktion in London. Am 29. April ließen hunderte Aktivist*innen auf dem Berkeley Square per Smartphone-Technik künstlichen Nachtigallgesang erklingen, um auf das Artensterben aufmerksam zu machen. Dazu musizierten sie – an einem Ort, der während des 2. Weltkriegs durch das Lied „A nightingale sang in Berkeley Square“ bekannt wurde.
Auch in Deutschland ist der Schutz der Nachtigall schon lange Thema. Seit dem Spätmittelalter erließen verschiedene deutsche Staaten Verbote für ihren Fang. Im 19. Jahrhundert gab es eine sogenannte Nachtigallensteuer, die bis heute als historisches Beispiel in Diskussionen um steuerpolitische Maßnahmen gilt. Dabei handelte es sich um eine Abgabe, die durch finanzielle Abschreckung dazu dienen sollte, den Wildbestand zu schützen. Denn viele Leute sperrten Nachtigallen in Käfige, um sie singen zu hören. Heute wird der Bestand in Deutschland auf rund 100.000 Brutpaare geschätzt.
Nachdem Sarah Darwin die Berliner Nachtigallen in ihrem Kiez entdeckt hatte, begann sie deren Reviere zu kartieren. Wenig später entstand die Idee, interessierte Bürger*innen mit Hilfe der Smartphone-App „Naturblick“ am Forschungsprozess zu beteiligen.
In Berlin gestartet, wurde das Projekt aufs gesamte Bundesgebiet ausgeweitet. Die Analyse der mit Angaben zu Ort und Zeit versehenen Gesangsaufnahmen hat eine Bandbreite von über 2000 Strophenvarianten ergeben. Die neuen Daten dürften Rückschlüsse auf regionale “Dialekte“ erlauben, wie auch auf bevorzugte Habitate, den Einfluss von künstlichem Licht, Lärm und Bautätigkeiten, Entwicklung der Populationsdichte und Wanderbewegungen. “Wenn wir die Umweltparameter besser verstehen, könnten wir einen Leitfaden zum Schutz der Nachtigall erstellen“, sagt Vogelexpertin Voigt-Heucke.
Das Projekt beleuchtet neben biologischen auch kulturgeschichtliche Aspekte und bietet den Teilnehmer*innen die Möglichkeit, persönliche Geschichten und Eindrücke zu teilen. Einige berichten vom alljährlichen Glücksmoment, Ende April die erste Nachtigall zu hören, andere assoziieren den Gesang mit Heimat, ihrer Kindheit, dem Anfang einer Liebe. Projektteilnehmer Sascha P. schreibt: „Mit Hilfe der Naturblick-App zum ersten Mal bewusst eine Nachtigall gehört und identifiziert. Ich war bisher der Meinung, die Nachtigall singt melodiös oder irgendwie lieblich. Umso überraschter war ich, dass der wirkliche Gesang irgendwo zwischen Techno und dem Soundeffekt eines 90er-Jahre-Computerspiels liegt.“
Ein Bürgerforscher aus Berlin-Steglitz berichtet: „In dem Baum vor meinem Schlafzimmerfenster lässt sich regelmäßig eine Nachtigall nieder und singt voller Inbrunst – leider jedoch schief …“ Tatsächlich singt jede Nachtigall ein bisschen anders. Im Schnitt hat ein Männchen 190 verschiedene Strophen drauf und gibt sie in immer neuen Kombinationen zum Besten. Warum aber betreiben die Männchen so viel Aufwand, um Weibchen zu beeindrucken? Sie singen in den Wochen nach ihrer strapaziösen Anreise aus Afrika fast ununterbrochen, bis zu 20 Stunden am Stück. Dabei bebt und zittert ihr ganzer Körper.
„Evolutionsbiologisch betrachtet, ist der Gesang der Nachtigall wie eine akustische Version des Pfauenrads“, sagt Sarah Darwin. „Diese Strategie hat Vorteile – je mehr Strophen ein Männchen draufhat, desto attraktiver ist es für die Weibchen. Aber das bleibt auch nicht ohne Kosten.“ So müssen die Jungen von ihren Vätern den Gesang mühselig erlernen und dann regelmäßig „üben“.
Manchmal mischt sich dabei der US-amerikanische Jazzmusiker David Rothenberg bewusst ein. Mit der Klarinette spazieren er und andere Musiker*innen im Frühling durch das nächtliche Berlin und musizieren, woraufhin die Nachtigallen antworten. Rothenberg meint: „Der Umstand, dass ich das in Europas zweitgrößter Stadt machen kann, einer Metropole mit mehr als drei Millionen Einwohnern, gibt mir eine besondere Art von Hoffnung.“
Darwin und Voigt-Heucke sehen das ganz ähnlich – und hoffen wohl, wie die wachsende Nachtigallen-Community insgesamt, dass Berlin sich seine Wildnis bewahrt.
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