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Bernhard Pötter Wir retten die WeltGänsehaut und Artensterben

Ich war zu Besuch bei Verwandten in den USA. Zwischen zwei Eierkuchen erzählte mein Neffe von seinem Tag in der Schule. „Wir haben heute einen Aufsatz geschrieben. Es ging darum, ob man im Unterricht ‚To kill a Mockingbird‘ lesen soll.“ Mir fiel fast die Gabel aus der Hand. Warum sollten Teenager nicht Harper Lees großartigen Südstaaten-Roman „Wer die Nachtigall stört“ lesen, wo aus Sicht eines Kindes von Armut, Unrecht, Rassismus, aber auch von Freundschaft und Treue erzählt wird? Warum? Darum: „Da kommt dauernd das N-Wort vor.“

Ich fand das ziemlich irre. Weil ein Roman in realistischen Dialogen aus den 1930er Jahren aus dem Süden der USA von „Negern“ spricht, soll man ihn nicht mehr lesen? Nichts gegen gendergerechte Sprache, die unsere Leser*innen daran erinnert, dass unser Sprechen unser Denken formt. Aber Klassiker in die Ecke zu werfen, weil einem die beschriebenen Zustände nicht passen und sich jemand ungerecht behandelt fühlen könnte? Goethes „Faust“ in den Giftschrank, weil Gretchen übel mitgespielt wird? Orwells „Farm der Tiere“ verbannen, weil der Hof nicht biologisch-dynamisch geführt wird? Ich glaube nicht, dass man Jugendliche so einfach vor der bösen Welt da draußen schützen kann. Vor allem nicht, wenn sie sich mit ein paar Mausklicks Enthauptungsvideos und harte Pornos aus dem Netz runterladen können.

Die wirklich schlimmen Sachen will ohnehin keiner sehen oder lesen. Anfang der Woche hat der UN-Biodiversitätsrat seinen neuen Bericht veröffentlicht, wie wir die Erde ruinieren: Unsere Lebensweise vernichtet Pflanzen und Tiere immer mehr, immer schneller, und damit bedrohen wir unser eigenes Überleben. Das könnte ganz schön was auslösen bei sensiblen Menschen. Oder auch nur bei denen, die lesen können. Aber eine Triggerwarnung auf dem Bericht ist offenbar nicht nötig. Er wird zur Kenntnis genommen – und vergessen.

Da ist er in guter Gesellschaft. Der Bericht des Weltklimarats zu 1,5 Grad aus dem Herbst 2018? Nicht wirklich ein Bestseller. Die Warnungen im letzten GEO-Bericht der UNO, dass wir den Wettlauf gegen die Umweltzerstörung verlieren? Tjaaaa. Der drängende Appell des Beirats Globale Umweltveränderungen über eine Digitalisierung, die unsere Menschheitsprobleme entweder löst oder verschärft? Ich wette, den haben Sie nicht mal mitbekommen.

Alle diese Berichte können es einem kalt den Rücken runterlaufen lassen, auch wenn man nicht direkt an der frosterregenden Klimaanlage im Büro einer US-Umweltorganisation sitzt wie ich gerade. Glauben Sie mir: Man kann sich da wirklich gruseln. Wenn ich gerade nichts von Stephen King finde und mir die „Zombie Apokalypse“ keine Gänsehaut mehr macht, greife ich gern mal zum letzten IPCC-Bericht. Aber da bin ich die Minderheit. Kaum jemand kümmert sich darum. Wieso nicht? Vielleicht, weil man sonst was tun müsste, um sich noch in die Augen sehen zu können. Unvergessen der damalige Innenminister Thomas de Maizière auf die Frage, warum er keine Details zu einem verhinderten Terroranschlag preisgeben wollte: „Teile der Antwort würden die Öffentlichkeit verunsichern.“ Und das wollen wir doch nicht.

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