piwik no script img

Seitenblick auf Randfiguren

Die 65. Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen zeigen Vergessenes und Werkschauen von Eva Stefani und Alexander Sokurov zwischen Probierlust und Experiment

Von Barbara Wurm

Flugstreikwarnung hin, DB-Verspätung her. Die Ankunft verzögert sich. So geht der angebliche Festivalhit schon zu Ende, Einlass erst wieder zur Pause. Jede*r kennt die Spielregeln in der Oberhausener Lichtburg. Der Film heißt „La fórmula secreta“, gemacht hat ihn der Mexikaner Rubén Gámez 1965, wiedergefunden Tobias Hering, für den er „zornige Kapitalismuskritik mit einer symbolisch-psychedelischen Filmsprache verbindet“. Schon die Urahnen von Festivalleiter Lars Gass, Hoffmann & Wehling, konnten der geheimnisvollen Formel etwas abgewinnen und erfanden für sie ein Kuriosum: den „Preis für den verkannten Film“.

Zum Glück gibt es „re-selected“ noch zweimal. Einmal mit dem letzten Mohikaner des linken Films: Želimir Žilnik rezitierte gut gelaunt aus jenem Manifest, in dem er sich selbst der Heuchelei bezichtigt und das mitten in seiner legendären Schwarze-Wellen-Demontage „Crni Film“ als Schriftzug auftaucht. „Film – Waffe oder Scheiße?“, lautete schon 1971 die Frage. Die zweite Gelegenheit, der wundersamen Verbindung von Politik- und Filmgeschichte mit dem verqueren Heute beizuwohnen, bietet der von klassisch-ägyptischer Off-Kommentar-Ironie begleitete „Rat eines weisen Mannes“ („Waseyat Ragol Hagiem“, 1976), ein von Eseln (im nunmehr nos­talgischem Rotstich) verschöntes Edukationsprojekt, das die Selbstverständlichkeit des im dokumentarischen Bild offenbarten Aufklärungswillens mit der Selbstverständlichkeit des im Kommentar verankerten staatlichen Paternalismus überlagert.

Von solchen Bild-Ton-Scheren, wie man das einst nannte, handelt sehr bewusst, nonchalant und bodenlos auch das filmische Universum des Nordrhein-Westfalen Rainer Knepperges (solchen Esprits sollte man mal eine Berlinale-Retro überantworten). Sprachspielversiert wandte sich der Korschenbroicher Anagrammen seines Namens zu und verfasste mit „Serge Rippenanker“ ein parafilmisches Titelexperiment (2009), das er als „Exzess der Eitelkeit“ betrachtet. Er hätte mit seinem Aldi-Computer alle Effekte, die dieser bot, übereinandergeschichtet, erzählt er selbstbelustigt bei der Präsentation seines Programmes „NRW in Person“, das nicht nur eigene Arbeiten umfasste – sehr schön etwa „Vielfalt erforschen“ (2008) über den graduellen Verlust von Betonobjekten im Alltag, der Kurzwestern „Das nasse Grab der Grenzbanditen – Pulverdampf ist kein Parfum“ (1998) oder auch „Tour ­Eifel“ (2000), eine Wie-Männer-miteinander-reden-Etüde –, sondern mit Filmen wie Fritz Illings im Westberlin von 1964 entstandenen „Sie heirateten in Gretna Green“ auch eine tolle Entdeckung machte.

Beim Filmemachen macht man Fehler. Doch – so Knepperges fast altersweise – diese Fehler zu korrigieren, wäre sicherlich der größte Fehler. Spätestens hier deutet sich eine fröhlich produktive Fehlerkunde als (persönliches) Leitmotiv des Festivals an, das freilich unterschiedliche Tonarten durchzieht – besonders in Bezug auf die beiden filmischen Highlights des Festivals: zwei Profile.

Über seine Filme spricht der russische Regisseur Alexander Sokurov kaum, sie sprechen für sich

Das kleinere war der griechischen Regisseurin und Poe­tin Eva Stefani gewidmet, die – angesprochen auf ihr bevorstehendes Ausstellungsprojekt bei der Biennale in Venedig – es als möglichen Fehler bezeichnete, sich vermehrt im Visual-art-Kontext zu präsentieren, wo sie doch eigentlich vom Film komme. Genuin filmisch sind nicht nur Stefanis intime Dokumentarfilme über „Menschen am Rande“: „Athinai“ (1995) – die Erkundung jener streunenden Nomaden und strandenden Obdachlosen rund um den Athener Hauptbahnhof, die eine außergewöhnliche Dialektik von beobachtend-freundschaftlicher Nähe und respektvoller Distanz entwickelt –, „The Box“ (2004) – die wunderliche Liebe einer alten Dame zum Fernseh-Image eines Nachrichtensprechers – oder „What Time Is It?“ (2007) über die nicht minder innige Beziehung zweier älterer Männer. Stefanis unerschöpfliche Probierlust und handwerklich wie sinnlich überzeugende Qualität belegen auch ihre kürzeren Super-8- und/oder Found-Footage-Filme, Arbeiten wie „Virgin’s Temple“, die – um ihre eigenen Assoziationsketten aufzugreifen – längst aus dem Parthenon (dem Jungfrauengemach) in den Panthenon des feministischen Filmkanons wandern müssten.

Last, but not least handelten überraschenderweise auch die Narrative des alten Meisters aus Russland vom Œeuvre als produktiv fortgesetzter Fehlerkette. Überhaupt gab sich Alexander Sokurov, aus dessen unzähligen Filmen Christiane Büchner die frühen (meist dokumentarischen, aber im Grunde überaus experimentellen) Arbeiten der Zeit der späten 1970er bis Mitte der 1990er Jahre zu sechs großartigen Programmen zusammengestellt hat, sehr auskunftsbereit. Wer hier auf die oft eigenwilligen Diskurse und notorischen Stichworte „Putin, der bessere Deutsche“ (weil er „Faust“ förderte) oder „Frauen dominieren Männer“ (als quasi angeborene Neigung zu Sexualisierung) anspringt wie Pawlows Hund, hat den Punkt verfehlt (Fehlerkunde).

Sokurovs Denken mag verquer sein, aber er spricht geradeheraus und meint es ehrlich. Über seine Filme spricht er kaum. Sie sprechen für sich, werfen ausgedehnte Seitenblicke auf Randfiguren („Marija“, 1978–88), menschliche Schwächen von Politikern (Jelzin in „Primer intonacii“ und „Sovetskaja elegija“), gießen Wahrnehmung und Ausdruck in „Elegien“ – russische, einfache, östliche. Mit „Spiritual Voices“ („Duchovnye golosa“, 1995) läuft einer der längsten Filme des Kurzfilmfestivals. Ein Fehler im System als Erfahrungsraum: Genieverehrung hier (Mozart), Mitleidsbekundung da (einfache Soldaten). 327 Minuten Perzeptionseuphorie an der tadschikisch-afghanischen Grenze. Kalt-heiß-Pakete als Filmuniversum. Mitten in Oberhausen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen