berlinmusik: Spur nach Süden
Wie geht der A/tem? Wem geht der Atem? Bei der in Berlin lebenden Klang- und Stimmkünstlerin Alessandra Eramo führt die banale Reflexion über das Luftholen in sehr wenigen Schritten zum Tod. „a/tem“, so nennt sie das erste Stück auf ihrem Debütalbum „Tracing South“, rhythmisch gesprochen oder gehaucht, ganz der eigenwilligen Orthografie gehorchend: „Aa-t“, „Aa-t“, „A-hm“, „A-hm“, immer und immer wieder. „I cannot neglect the sea“ heißt der zweite, ebenfalls gesprochene Titel – gefolgt von „mediterranean migrant cemetry“, einer rein instrumentalen Nummer.
„Tracing South“ meint den Süden, aus dem Eramo selbst kommt. Geboren in der Küstenstadt Taranto in Apulien, am Absatz des Stiefels, als den man sich Italien seiner Form wegen gern vorstellt, hat sie sich von diesem Süden in mehreren Etappen stetig nordwärts entfernt. Zunächst über Mailand und Venedig, wo sie studierte, dann weiter über Stuttgart bis nach Berlin.
Losgelassen hat sie der Süden nie. Das Mittelmeer, an dem sie aufwuchs, ist auf ihrem Album als Kulturraum gegenwärtig, etwa in den Field Recordings von Dudelsäcken, „zampogna“ genannt, aus Süditalien. An anderer Stelle dienen Eramo langgezogene Mundharmonikatöne als Material für die Klangmalerei einer „southern landscape“. Die kann man dann frei assoziierend selbst bebildern.
Alessandra Eramos Hauptinstrument ist jedoch ihre Stimme. Die setzt sie gern für Collagen aus gesprochenen Monologen ein, lässt gesungene Töne in mikrotonalem Abstand sich aneinander reiben oder verzerrt ihren Gesang so stark, dass er wie eine elektrische Gitarre klingt. Und in „my favourite A train“ gibt sie eine Kostprobe ihrer erweiterten Stimmtechnik, lässt ein Vibrato zum Oberton oder zum Schreien mutieren. Und gibt Laute von sich, die an die Klangspiele von Kindern denken lassen, wenn diese mit den Fingern so an den Lippen zupfen, dass ein konstantes „Bödlödlödlödlödl“ entsteht.
Ganz zum Ende offenbart sich Eramo mit entwaffnend klarem Gesang, tritt ihren Hörern wie nackt entgegen, während sie die Zeile „when i look into your eyes“ wiederholt, immer aufs Neue. Ein Liebeslied? Oder die vermeintlich schutzlose Selbstbehauptung eines Individuums als perfekte Maske? Tim Caspar Boehme
Alessandra Eramo: „Tracing South“ (Corvo Records), live 27. 4., Liebig12
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen