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„Wanderer zwischen den Welten“

Der Wattführer Albertus Akkermann ist auf Ostfrieslands größter Insel Borkum geboren. Auf dem Festland wollte er Lehrer werden. Ein Gespräch über selbsterfüllende Prophezeiungen und Unwetter, die sogar einen Borkumer noch überraschen können

„Nichts betrifft eine Insel mehr als die Launen der Natur“: Der weite Blick von Borkum ins Watt Foto: Ingo Wagner/dpa

Interview Yasemin Fusco

taz: Herr Akkermann, Sie sind Wattführer auf der Insel Borkum. Was bringen Sie den Touristen auf Ihren Führungen bei?

Albertus Akkermann: Ich mache ihnen einen Lebensraum begreiflich, den sie in diesem Moment erst wirklich kennen lernen, in dem sie ihn anfassen. Das Wattenmeer ist ein kleiner Lebensraum und die Menschen müssen hier selbst gucken, wie die Muscheln sich in die Erde eingraben, damit die nächste Flut sie nicht mitreißt.

Wie sind Sie darauf gekommen, auf Borkum Wattführungen anzubieten?

Ich hatte in Oldenburg Lehramt für Realschule studiert und habe 1988 einen Nebenjob gesucht. Ich wollte damit mein Studium finanzieren. Plötzlich wurde ich aber Vollwaise und musste überlegen, ob ich herziehe oder das Haus verkaufe. Ich wollte aber nicht völlig den Bezug zu Borkum verlieren.

Warum nicht?

Hier sind meine Wurzeln und meine lange Familiengeschichte. Das Haus, das ich heute vermiete und in dem ich auf Borkum wohne, hat mein Urgroßvater gebaut. Heimat ist ein merkwürdiger Begriff, aber das ist es hier für mich. Mich verbindet persönlich etwas mit den Menschen hier, mit den BorkumerInnen und denen, die gerne auf die Insel kommen.

Aber Sie leben nicht das ganze Jahr über hier, oder?

Nein. Ich habe zwei Lebens-mittelpunkte. In der Saison lebe und arbeite ich auf Borkum. Im Winter lebe ich mit meiner Familie in Oldenburg. Das hat den Nachteil, dass ich zu einem Wanderer zwischen den Welten geworden bin. Meine Söhne sind hier nie auf die Schule gegangen. Seit dem Kindergarten leben sie auf dem Festland und außer zum Urlaub machen zieht sie hier auch nichts mehr hin.

Welche Vorteile hat das Arbeiten hier mitten im Watt auf einer Insel irgendwo kurz vor den Niederlanden?

Das ganze Inselleben ist anders. Ich wollte Lehrer werden und bin es doch auf Borkum geworden, obwohl ich mein Studium nicht beendet habe. Ich wäre ja Lehrer für Deutsch, Religion und Musik geworden. Heute unterrichte ich die Leute in der Natur und informiere sie über die Beschaffenheit der Böden im Watt, über die Gezeiten, über die berühmten Wattwürmer und ihre Hügelchen, die sie hinterlassen.

Wie wird man Wattführer?

Früher wurde man das per Zufall, so wie bei mir als Job für die Semesterferien. Und unter Kollegen habe ich dann mitbekommen, dass sie auch Wattwanderer ausbilden. Für mich war das etwas praktisches, einen direkten Kontakt zu den Menschen mochte ich schon immer lieber.

Mussten Sie Lehrgänge besuchen?

Damals bekam ich einen Zettel, auf dem die Wissensgebiete standen, die ich lernen musste. Dinge wie Wetterkunde, Gezeitenkunde, Gefahrenkunde, dann noch die Nationalpark-Verordnung, der damals neu gegründet war. Die Verordnung für das Führen im Wattenmeer. Ortskenntnisse und Biologie waren auch wichtig. Diese Gebiete musste man durcharbeiten und für eine Prüfung lernen.

Foto: Yasemin Fusco

Albertus Akkermann, 61, Wattführer, Borkumer, Ostfriese

Ist es immer so, wenn man auf der Insel aufwächst, dass die Natur wichtiger ist als für diejenigen, die nur zum Urlaub machen hier sind?

Ich weiß nur, wie es bei mir war. Und meine Großeltern und Eltern waren schon sehr naturverbunden. Die haben ihr Eiland geliebt, und mit dem Bewusstsein bin ich auch lange aufgewachsen.

Gibt es nach über 30 Jahren noch Erinnerungen, die lange hängen bleiben?

Es gibt Erinnerungen, die ich kategorisiert habe. Zum Thema Wetter sind natürlich die meisten und unzählige Erinnerungen, die immer mal wieder ins Gedächtnis schießen, weil sie so heftig waren.

Welche?

Ich wurde mal vom Wetter überrascht. Das passiert dir als Insulaner selten. Ich war mit einer großen Gruppe unterwegs, wir waren gerade ins Watt gewandert und ich mitten in meinen Erklärungen über Gott und die Welt. Plötzlich brach das heftigste Unwetter, das ich jemals gesehen habe, über uns ein.

Auf Borkum dreht sich das Wetter schnell.

Aber der Himmel verfärbte sich nicht nur schwarz, wie man das sonst so bei Gewittern kennt. Es wurde grünlich und stockdunkel. Die Atmosphäre war so aufgeladen, dass die Edelgase zu leuchten anfingen – ich hatte so jedenfalls den Eindruck. Mit einer unglaublichen Vehemenz fing es an zu regnen, und ich musste zusehen, wie die Gäste in einer Senke nach Schutz suchten. Wir harrten einige Stunden so aus und waren fix und fertig. Ansonsten gibt es eine Menge Verletzungen, die ich gesehen und selber davongetragen habe.

Suchen Sie noch Kontakt zu Ihren Gästen?

Jede Saison ist neu. Ich laufe mit über 10.000 Menschen ins Watt. Das sind Schulklassen, Sonderschulen, Stadtteilschulen, Elite-Gymnasien, Familien mit ihren Kindern. Familien, die nicht das klassische Ferienwohnungs-Leben wollen, sondern lieber in der Jugendherberge am Wattenmeer wohnen wollen. Menschen, die mit mir ins Watt müssen – und die, die es wollen. Es ist genau das, was ich immer wollte. Die Abwechslung ist sehr wichtig. Und jede Gruppe ist anders zu sehen als die vorige.

Vor der Nordseeküste liegen im Nationalpark Niedersächsisches Wattenmeer auf 90 Kilometern die sieben Ostfriesischen Inseln. An der Seeseite liegen die Badestrände, an der Landseite das Wattenmeer und die Salzwiesen.

Um sich die Reihenfolge von Ost nach West besser merken zu können, gibt es eine Wortleiter: Welcher Seemann Liegt Bei Nacht Im Bett. Gemeint sind Wangerooge, Spiekeroog, Langeoog, Baltrum, Norderney, Juist und Borkum.

Der Nationalpark Niedersächsisches Wattenmeer wurde 1986 gegründet und darf nur mit qualifizierten und extra ausgebildeten Wattwanderern betreten werden – und auch nur bei Ebbe.

Bei Niedrigwasser sind sechs der Inseln theoretisch vom Festland zu Fuß durch das Wattenmeer erreichbar – allesamt fordernde Touren. Allein Borkum, die größte der Ostfriesischen Inseln, ist dauerhaft vom Wasser umgeben.

Die Insel Juist ist im Gegensatz zu ihrer großen Nachbarin eine autofreie Insel. Selbst PolizistInnen sind auf Juist mit dem Fahrrad unterwegs. Der Transport wird dort überwiegend mit dem Pferd erledigt. Mit 17 Kilometern ist Juist die längste der Ostfriesischen Inseln. Juist bietet UrlauberInnen, die viel Wert auf Ruhe und Entschleunigung legen, eine Zuflucht.

Auf Norderney ist zwölf Monate im Jahr Saison. Im Stundentakt fahren Fähren die TouristInnen von Norddeich Mole auf die mit gut 6.000 EinwohnerInnen bevölkerungsreichste der Inseln. Eine Stunde dauert die von der Tide unabhängige Fahrt.

Baltrum ist mit 6,5 Quadratkilometern und gut 600 EinwohnerInnen nach Fläche und Bevölkerung die kleinste Insel – und zudem die ruhigste, weil autofrei. Ebenfalls autofrei ist Langeoog mit dem 14 Kilometer langen Sandstrand. Als einzige der Ostfriesischen Inseln hat sie einen richtigen Wald zu bieten.

Das etwas kleinere Spiekeroog hat mit 800 Menschen nur halb so viele BewohnerInnen und ist ebenfalls autofrei. Halb so groß, aber fast doppelt so viele BewohnerInnen: Wangerooge, östlichste der Ostfriesischen Inseln – und auch autofrei. Außerdem gibt es noch vier unbewohnte: Lütje Horn, Memmert, Minsener Oog und Mellum.

Die Saison ist auf allen Ostfriesischen Inseln auf die Ferientage in Nordrhein-Westfalen zurückzuführen: Das Bundesland stellt den größten Anteil unter den Urlaubenden. Gäste aus Niedersachsen machen etwa auf Borkum nur rund 25 Prozent aus.

Wachstums-Wünschen sind auf den Ostfriesischen Inseln enge Grenzen gesetzt: Für die wachsende Nachfrage nach exklusivem, möglichst naturnahem Urlaub gibt es einen Leitsatz, der hier immer häufiger zu hören ist: Weniger ist Mehr.

Werden Sie dann von denen, die Sie ins Watt geführt haben, in der Borkumer Innenstadt angesprochen? Wie reagieren Sie darauf?

Meine Spielwiese ist der Nationalpark des Niedersächsischen Wattenmeers. Das ist mein Beruf. Ich spreche über Wattwürmer, Herzmuscheln, Naturschutz und biologische Kreisläufe. Wenn mir jemand deswegen noch mal die Hand reichen möchte oder es toll findet, wie ich dieses Wissen vermittle, nehme ich die Hand sehr gerne an.

Borkum lebt ganzheitlich vom Tourismus, worin besteht Ihre Aufgabe?

Es geht um die Vermittlung von Naturgewalten und Launen der Natur. Nichts davon betrifft eine Insel mehr als das. Am Hauptbadestrand im Norden der Insel sorgen die Sandverlagerungen dafür, dass der Strandabschnitt zuwächst und sich in der Mitte ein Priel bildet, der möglicherweise zugeschüttet werden muss, damit keine Kloake entsteht. Die Insel ist immer im Wandel. Davon sind die Seehunde auf ihren Bänken als erste betroffen.

Und was passiert mit den Seehunden, wenn der Strandabschnitt geschlossen und verschüttet ist?

Die Seehunde werden sich ein ruhigeres Fleckchen Sandbank suchen.