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Bilderbögen gegen das Vergessen

Der Comiczeichner Simon Schwartz hat Biografien von Parlamentariern und Vorkämpferinnen der deutschen Demokratie erstellt. Nun sind die Personenporträts in Buchform erschienen und werden im Reichstag ausgestellt

Von Ralph Trommer

Das brüchige ovale Loch in der Mauer bildet den Rahmen eines ungewöhnlichen Porträts der Malerin und Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley. Im sie umgebenden deutsch-deutschen Mauer-Teilstück werden wesentliche Stationen ihres Lebens in Comicbildern nach gezeichnet: Seit ihrer Jugend kämpfte Bohley in der DDR für Frieden und Meinungsfreiheit, wurde mehrmals inhaftiert und setzte sich auch nach der Wende als parteilose Bundestagsabgeordnete für die Opfer der SED-Diktatur ein.

Dies ist nur eine von 45 Abgeordneten-Biografien, die der 1982 geborene Comiczeichner Simon Schwartz in „Das Parlament“ pointiert in Bildergeschichten umgesetzt hat. In der Abgeordnetenlobby des Reichstagsgebäudes werden nun die jeweils eine Comicseite umfassenden Personenporträts ausgestellt. Flankierend erscheint ein gleichnamiges Buch im Avant Verlag. Comics im Bundestag? Das ist ungewöhnlich, zumal, da Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble anlässlich der Vernissage hervorhebt, dass auf den Bilderbögen 70 Jahre nach den Wahlen zum ersten Bundestag Leben und Werk von Menschen nachgezeichnet werden, die sich „um unsere Demokratie […] besonders verdient gemacht haben“.

Simon Schwartz selbst erinnert daran, dass 1926 im Reichstag ein „Gesetz gegen Schmutz und Schund“ verabschiedet wurde, das nach dem Zweiten Weltkrieg in beiden deutschen Staaten bestätigt wurde und den schlechten Leumund der Kunstform Comic lange Zeit zementierte. Kristina Volke, Kuratorin und stellvertretende Leiterin der Kunstsammlung des Bundestags, inspirierte Schwartz’ Werk „Vita Obscura“ – eine skurrile Kurzporträtreihe teils zu Unrecht verkannter Persönlichkeiten“ (zunächst in Der Freitag veröffentlicht) – dazu, an den Zeichner heranzutreten und ihm vorzuschlagen, in ähnlicher Form Parlamentarier der deutschen Geschichte zu würdigen.

2016 beauftragte der Kunstbeirat des Bundestags den Zeichner, zunächst 20 Abgeordnete, die ab 1848, von der Frankfurter Nationalversammlung bis zur Weimarer Republik in Parlamenten saßen, zu porträtieren: Sie wurden 2017 ausgestellt. Daraufhin arbeitete Schwartz weitere Biografien aus, die bis 1989 reichen. Der in Hamburg lebende Zeichner berichtet, in der Auswahl der Persönlichkeiten vollkommen frei gewesen zu sein (außer, dass es sich um bereits verstorbene Abgeordnete handeln sollte). Auch erarbeitete er eigenständig die knappen, aber informativen Texte. Schwartz’ Wille zum formalen Experiment wird im Layout deutlich: Viele Porträts haben originelle Bildideen, die die ganze Seite strukturieren.

So wird das Wirken des bedeutenden Berliner Arztes und Pathologen Rudolf Virchow mit leisem Humor im Querschnitt eines menschlichen Schädels aufgefächert. Heute kaum noch bekannt ist, dass Virchow jahrelang Abgeordneter der „Fortschrittspartei“ war – er kämpfte gegen Aufrüstung und Kolonialpolitik, für eine medizinische Grundversorgung und ein vereinigtes Europa. Die dem jüdischen Romanisten Viktor Klem­perer gewidmete Seite ist ebenso eindrucksvoll und erinnert an manch „Splash-Page“ des US-Comic-Künstlers Will Eisner, wenn die Lettern von Klemperers Hauptwerken „LTI“ bzw. „LQI“ (die instrumentalisierenden Sprachen der NS-Diktatur und des SED-Regimes) gegenüber den winzigen Figuren wie übermächtige hohe Gebäude erscheinen.

Lückenhaftes Puzzle

Das Leben der Grünen-Politikerin Petra Kelly wird als vielfältiges, jedoch unfertiges Puzzle gezeichnet, was auf ihre nicht restlos geklärten Todesumstände 1992 verweist. Die Kommunistin Clara Zetkin und der 1848er Revoluzzer Robert Blum sind ebenfalls dabei – aber auch heute selten erinnerte Politiker sind vertreten: so etwa Erik Blumenfeld, der ein Hamburger Kohlewerk betrieb, enteignet wurde und als „Halbjude“ deportiert wurde. Als CDU-Abgeordneter war er der einzige KZ-Überlebende im Bundestag und ein Brückenbauer für die Aussöhnung mit Israel. Auf seinem Blatt dominiert die düstere Ansicht eines Konzentra­tionslagers.

Auf spektakuläre Bilder verzichtet Schwartz weitestgehend, er lässt Raum für Deutungen. Seine Porträts sind ausschnitthafte Einblicke in Biografien bedeutender politischer Vorreiter, die wechselhaft, manchmal auch widersprüchlich verliefen. Nicht selten endeten sie auf gewalttätige Weise. Ausstellung und Buch rufen die Schicksale in Erinnerung und regen auf unaufdringliche Weise dazu an, mehr über die Biografien zu erfahren. Eine Comic-historische Entdeckung gibt es auch: Ein Abgeordneter, Johann Hermann Detmold, hat 1849 zusammen mit einem Zeichner eine satirische Bildergeschichte (nach Vorbild des Schweizer Comicpio­niers Rodolphe Töpffer) über den fiktiven Abgeordneten Piepmeyer verfasst – 16 Jahre vor Wilhelm Busch ist das vielleicht der erste deutsche Comic.

Die Ausstellung gibt zudem Einblick in die Werkstatt des Zeichners: Neben fertiggestellten farbigen Comicseiten hängen jeweils die mit schwarzweißer Tusche ausgeführten Originale. Texte und Farben hat Simon Schwartz digital ergänzt, sodass zum Teil ein komplett neuer Eindruck entstand.

Bis 31. August www.bundestag.de/besuche/fuehrung

Simon Schwartz: „Das Parlament. 45 Leben für die Demokratie.“ Avant Verlag, Berlin, 104 S., 22 Euro

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