: Die zwei Gesichter von Kenia
Während der Süden Kenias um Nairobi und Mombasa prosperiert, ist in der trockenen Nordhälfte der Staat kaum präsent, Kriege zwischen Hirtenvölkern prägen das Leben. Dieses Jahr sind die Kämpfe heftiger als sonst. Die Regierung ist ratlos
AUS LEKEJI ILONA EVELEENS
Der Äquator schneidet Kenia in zwei beinahe gleich große Teile. Im Süden leben vor allem Bauern, der Staat ist sichtbar, es findet Entwicklung statt; im Norden schweifen Hirten herum, und es regieren die Waffen statt die staatlichen Strukturen. Wie ein riesiger Schiedsrichter steht auf dem Äquator Mount Kenya.
Das Dorf Lekeji liegt in der Nordhälfte. Marian Denge, die zum Borana-Hirtenvolk gehört, erklärt ihre Sicht des Landes, während sie ihren Schleier zurechtrückt: „Ich fühle mich als Kenianerin, aber meine Regierung hasst mich, weil ich Nomadin bin. Wir werden wie Fremde im eigenen Land behandelt.“
Lekeji mit 700 Einwohnern liegt rund 50 Kilometer nördlich vom Mount Kenya in der Savanne. Beige, gelbe und braune Farbtöne gehen ineinander über. In Lekeji leben Mitglieder von sieben verschiedenen Hirtenvölkern friedlich zusammen. Das ist selten im Norden Kenias. Immer wieder wird um das Vieh gestritten, auch mit der Waffe. Rinder, Kamele und Ziegen sind der Reichtum der Nomaden.
„Unsere Harmonie hier in Lekeji beweist, das Nordkenia nicht gewalttätig ist“, meint Sarah Orguba vom Rendille-Volk. „Es existieren Konflikte, und wenn wir sie nicht selbst lösen können, muss die Regierung uns helfen, wie sie das auch in anderen Teilen von Kenia macht. Aber wir sehen die Regierung nur, wenn es zu spät ist.“ Dieses Jahr sind die Kämpfe so heftig wie schon lange nicht. Im Juli gab es in der Nähe des Ortes Marsabit blutige Überfälle von bewaffneten Borana auf Angehörige des Gabra-Volkes. Über 90 Menschen kamen ums Leben, davon 22 Kinder. Tausende ergriffen die Flucht. Borana, angeblich eingedrungen aus dem nahen Äthiopien, waren verantwortlich für den Angriff. Aber der war Rache für eine frühere Beschießung durch Gabra, bei der dutzende Borana getötet worden waren.
Die Regierung schickte 2.000 Soldaten in die Region – ohne Erfolg. Polizei und Armee kommen meistens erst, wenn die Toten schon beerdigt sind. Für Lekeji befindet sich der nächste verfügbare Polizist in Nanyuki am Fuße des Mount Kenya. Die Nomadenfrau Sarah Orguba meint, dass alle Hirten entwaffnet werden sollten. „Aber das geht nur, wenn die Regierung unsere Sicherheit garantiert. Unbewaffnet sind wir ja Freiwild für bewaffnete Nomaden aus den Nachbarländern.“
Bei den Kämpfen zwischen Hirtenvölkern geht es meistens um Zugang zu Wasser und Weideland. Beides wird immer knapper. „Die Regierung könnte helfen, zum Beispiel neue Wasserbrunnen zu finden“, meint Peter Desurmat, Rendille und Sohn des Gründers von Lekeji. „Wir haben zu viel Vieh auf zu wenig Boden. Die Regierung sollte mehr Schulen bauen, damit unsere Kinder einen anderen Beruf lernen können.“
Zumindest in Lekeji ist das Problem nicht Landknappheit. Lekeji ist umgeben von vielen Kilometern elektrischem Zaun. Hinter dem Stacheldraht, auf dem privaten Land, gibt es noch Gras, während es auf dem öffentlichen Land davor schon verschwunden ist. Das beste Land im Norden Kenias gehört den Reichen: Ausländern, die sich einen privaten Wildpark angelegt haben, oder kenianischen Politikern, die von früheren Präsidenten Land als Geschenk bekamen.
Peter Desurmat ist stolz auf die Traditionen seines Volkes. Er hat drei Frauen und meint, dass seine Söhne in die Schule gehen sollen – nicht aber seine Töchter. „Wir müssen uns in manchen Gebieten an die moderne Zeit anpassen“, konzediert er. „Unsere traditionelle Rechtsprechung funktioniert nicht mehr. Früher vereinbarten die Stammesältesten, wie viel Vieh als Strafe für einen Mord gezahlt werden sollte. Aber jetzt gibt es so viele Waffen, dass das keinen Sinn mehr macht. Wir müssen die moderne Rechtsprechung einführen. Aber dann brauchen wir Polizei, Richter und Anwälte.“
Der Staat ist im Norden Kenias kaum präsent. Es gibt zwar Beamte, aber die meisten sind dort nicht aus freiem Willen, sondern wurden aus dem Süden zwangsversetzt. Ein Polizist, der zu leicht zur Waffe greift; ein Richter, der umstrittene Urteile fällt; ein ungehorsamer Soldat oder ein korrupter Bediensteter – sie werden zur Strafe in den Norden geschickt. Für die Menschen dort setzen diese Leute sich nicht ein.