: Drei Stunden TV-Oper
Protestlieder und „Stadt ohne Juden“: Von heute an bietet das Festival MaerzMusik ein Programm mit Diskussionen, historischen Fernsehbeiträgen über Musik und auch Konzerten
Von Tim Caspar Boehme
Politische Musik ist immer dann am besten, wenn die Botschaft die Kunst nicht zweitrangig werden lässt. Der US-amerikanische Komponist Frederic Rzweski hat das in ziemlich unerreichter Form hinbekommen. Sein Werk „The People United Will Never Be Defeated!“ von 1975, mit dem das Festival MaerzMusik heute im Haus der Berliner Festspiele eröffnet, nimmt die chilenische Widerstandshymne „Il pueblo unido, jamás será vencido“ des Komponisten Sergio Ortega als Grundlage für einen Variationszyklus für Klavier. Ohne dass die Botschaft in der kunstvollen Ausgestaltung verloren ginge.
Martialisch und wuchtig, im nächsten Moment zart und lyrisch, wird das Thema vorgestellt, um anschließend in 36 Variationen in immer neue Partikel zersprengt und in aberwitzig virtuosen Konfiguration durchgearbeitet zu werden. Das Volkslied wird damit einerseits in eine Hochkulturform überführt, wie einst in der Sakralmusik der Renaissance, in der die Themen für die streng polyphonen Messen oft auf Volksliedern beruhten. Andererseits bleibt bei Rzewski das Thema, das stets in Fragmenten wiederkehrt, bis zu seiner Wiederholung am Ende erhalten.
Das Protestlied und seine Botschaft sind so in diesem Zyklus, der zu den größten Beiträgen zur Klaviermusik des 20. Jahrhunderts zählt, aufgehoben. Rzewski greift dabei auf so viele verschiedene Stile zurück, dass seine Musik auch für Hörer, die neuer Musik eher reserviert gegenüberstehen, durchaus geeignet ist. Und durch den Titel ist ziemlich ausgeschlossen, dass man seine Botschaft komplett ignoriert. In jüngerer Zeit haben sich Virtuosen von Marc-André Hamelin bis zu Igor Levit des Werks, das ursprünglich für die US-amerikanische Pianistin Ursula Oppens geschrieben wurde, angenommen. Bei MaerzMusik wird Rzewski, der ebenfalls Klaviervirtuose ist, selbst am Flügel sitzen.
Ein Auftakt, den man auf keinen Fall verpassen sollte, nicht zuletzt, da ein nicht ganz unberechtigter Vorwurf an das Festival lautet, dass es seit seiner Umbenennung in „Festival für Zeitfragen“ dem Reden über so allerlei viel Platz einräume, darüber jedoch die Musik etwas ins Hintertreffen gerate. Mit seinen über 40 Jahren ist „The People United …“ zwar nicht mehr brandneu, dafür aber immer noch frisch und in dieser Darbietung allemal eine Besonderheit, die am 31. März noch einmal im Kraftwerk unter ungünstigeren akustischen Bedingungen wiederholt wird.
Gespannt sein kann man auch auf die neue Filmmusik, die die österreichische Komponistin Olga Neuwirth zu Hans Karl Breslauers Stummfilm „Die Stadt ohne Juden“ von 1924 geschrieben hat. Der in seiner Vorahnung des eskalierenden Antisemitismus als prophetisch geltende Film, der seit dem vergangenen Jahr in restaurierter Fassung vorliegt und dessen Thema wieder unselige Aktualität erlangt hat, ist am 29. März im Haus der Berliner Festspiele zu sehen, mit dem Wiener Ensemble Phace unter der Leitung von Nacho de Paz. Sprecher ist der Schauspieler Samuel Finzi.
Das Festival MaerzMusik bietet vom 22. bis 31. März wieder Konzerte, darunter Werke der Komponisten Frederic Rzewski, Olga Neuwirth, Ashley Fure und Jennifer Walshe. Zudem gibt es Multimedia-Performances, die Konferenz „Thinking Together“ mit ausführlichem Diskursangebot und zwei medienhistorische Programme: „Tele-Visionen“ mit Archiv-Fernsehfilmen über neue Musik und die Ausstellung „Persepolis“ über das iranische Kunstfestival in Shiraz-Persepolis. Der Konzertmarathon „The Long Now“ am letzten Wochenende beschließt das „Festival für Zeitfragen“. www.berlinerfestspiele.de
Einen Abend ausschließlich mit Komponistinnen gibt es tags zuvor im Konzerthaus. Olga Neuwirth, die gern mit nervös-spannungsgeladenen Gesten arbeitet, ist auch dort mit ihrem Orchesterstück „Masaot / Clocks without Hands“ vertreten. Von ihrer US-amerikanischen Kollegin Ashley Fure, die so filigran wie flächig mit Klängen arbeitet, gibt es die deutsche Erstaufführung von „Bound to the Bow“ für Orchester und Elektronik. Und von der litauischen Komponistin Justė Janulytė bringt das unter Peter Rundel aufspielende Konzerthausorchester „Was there a Swan?“ für Orgel und Orchester zur Uraufführung.
Dass ein Musikfestival nicht ausschließlich mit Konzerten ein interessantes Musikprogramm bestreiten muss, könnte die Reihe „Tele-Visions“ unter Beweis stellen. Vom 23. März an gibt es jeden Abend historische Fernsehbeiträge über oder mit Musik zu sehen. Bei denen man mitunter ins Staunen gerät, was in der Vergangenheit so alles im öffentlich-rechtlichen Fernsehen möglich war.
Neben Robert Ashleys dreistündiger Fernsehoper „Perfect Lives“ von 1983, in der die Stimme des Komponisten das Geschehen, in dem auch Klavierspiel eine nicht unerhebliche Rolle spielt, konstant bestimmt, stehen diverse Beiträge des deutschen Schriftstellers und Komponisten Hans G Helms, die dieser für den WDR realisierte. Darunter ein kritischer Beitrag zur 25. Ausgabe der Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik 1970 oder die Dokumentation „Evolution schwarzer Musiker in den USA – im Kampf gegen ökonomische Zwänge und Rassismus“. Auch als kleiner Einblick in die Schätze der Fernseharchive ein nicht zu unterschätzendes Projekt.
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