berliner szenen: Freier Blick in fremde Zimmer
Wer hätte das gedacht – im Sony-Center leben Menschen. Dank „bodentiefer Fenster“ kann man sie beobachten, wenn man in der Bibliothek der Deutschen Kinemathek sitzt. Die meisten Wohnungen sind hinter Jalousien verborgen. Sie gehören vermutlich russischen Oligarchen, die in günstige Berliner Wohnungen investiert haben, diese aber leer stehen lassen.
Aber hier und da hat ein Anwohner die Rollos hochgezogen, um die gelegentlich durch den grauen Himmel durchbrechende Sonne einzulassen, und man hat freien Blick in fremde Wohnzimmer. Mit dem schlechten Gewissen des Voyeurs sieht man von hinten einen Mann mit grünem Pullunder und grauen Haaren in einem Polstersessel an einem runden Biedermeier-Tisch sitzen und lesen. Die dunkelbraunen Naturholz-Möbel wirken zwischen der grauen Fassade aus Stahl und Glas fehl am Platz, der Lesende erst recht. Sollte man, wenn man eine Wohnung in einem „Ensemble“ des Shopping-Mall-Architekt Helmut Jahn bewohnt, nicht mindestens am Laptop sitzen, besser noch am Smartphone hängen?
In der Wohnung daneben liegt ein alter Mann ausgestreckt in einem beigen Sessel. Er verharrt so lange regungslos, dass ich mich zu fragen beginne, ob er noch am Leben ist. Doch dann steht er plötzlich am Fenster, blickt nach unten und freut sich wahrscheinlich darüber, dass er diese Wohnung in den 90er Jahren zu einem Preis gekauft hat, für den man heute kein Ein-Zimmer-Loch in Neukölln mehr bekommt.
Am ergreifendsten sind die Stillleben, die leise Auskunft über ihre abwesenden Bewohner geben: hier ein Balkon mit bunten Kindermöbeln. Dort ein einsamer Feuerlöscher oder Bürostuhl. Oder ein Sofa, hinter dessen Lehne ein Staubsauger versteckt ist. Tilman Baumgärtel
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