berliner szenen: Mähne, Zähne, Rauschebart
In Babsis Salon, wo die Hausgemeinschaft gern bei Kaffee und Kuchen bzw. Bier und Schmalzbrot zusammenkommt und die Bedeutung von Dostojewskis Vielstimmigkeit oder steile Verschwörungstheorien diskutiert (Klaus Mann ein Opfer der Organisation Gehlen?), herrscht diesmal erwartungsvolle Stille.
Bodo, dem ein Dachstuhlbrand im letzten Saharasommer fast sein riesiges Fotoarchiv verzehrt hätte, liest aus einem mit Tochter Sophie gestalteten Bildband mit locker gruppierten Schwarzweiß-Aufnahmen Berliner Szenen und melancholischen Prosaminiaturen aus New York und Moskau.
Während der Lesung fällt mir der Flyer an der Wand neben dem Vortragenden auf, ein Dokument aus dem wilden Prenzlauer Berg. Es zeigt Bodo vor 40 Jahren, Mähne, Rauschebart, zähnefletschend den Mund aufreißend, darüber steht: „Vorsicht Mensch!“
Super Slogan, denke ich noch am anderen Morgen. Leicht verkatert sitze ich Frau Goljadkina gegenüber, sie ist Urkundsperson im Bezirksamt Pankow und sie nimmt ihre Aufgabe wirklich ernst. Sie ist eins mit ihrer Arbeit, bei der es darum geht, ein amtliches Dokument vorzulesen und unterschreiben zu lassen. Ihr Wunsch ist es, den Kunden zufriedenzustellen, er soll aus freien Stücken, aus ganzem Herzen unterschreiben. Da es in diesem Fall um eine nicht unerhebliche finanzielle Verpflichtung geht, strengt Frau Goljadkina sich besonders an.
Liebevoll gleiten ihre Augen über das Dokument, ihre Stimme hat einen unwiderstehlichen Schmelz, als sie liest: „Der Erschienene ist nach Überzeugung der Urkundsperson geschäftsfähig.“ Ich bin nah dran, sie zu bitten, es zu wiederholen. Wie in Trance nehme ich den Kugelschreiber, den sie mir hinhält, und unterschreibe.
Sascha Josuweit
Eine Koalition, die was bewegt: taz.de und ihre Leser:innen
Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: Unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen