Abschreiben macht klug

Jeder vierte Schüler nimmt in Deutschland Nachhilfe. Das muss nicht sein, denn es ist teuer und begünstigt nur jene, die es sich leisten können. Besser wäre, sich auf Lernnetzwerke zu konzentrieren

VON SASCHA BLÄTTERMANN

Diese Woche beginnt für ein Drittel der deutschen Schüler die Schule (wieder), heute in Nordrhein-Westfalen, von Donnerstag an in Bremen, Niedersachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt. Nach den Sommerferien wird bereits jetzt um die Versetzung im Sommer 2006 gebangt. Jeder vierte Schüler in Deutschland geht deshalb nicht nur vormittags in die Schule – nachmittags müssen die Betroffenen zur (privat organisierten und bezahlten) Nachhilfe – vor allem in den Fächern Deutsch, Englisch und Mathematik.

Bildungsministerin Edelgard Bulmahn (SPD) sieht diesen Missstand – und sagte nun, es ist ja Wahlkampf, dass Ganztagsschulen „mit einer individuellen Förderung bessere Chancen für alle Kinder“ schaffen, denn der Erfolg in der Schule dürfe „nicht vom Geldbeutel der Eltern abhängen“. Doch Bulmahn trifft mit ihrer Werbung für das Prestigeprojekt ihrer Partei nicht den Punkt. Denn das wahre Problem liegt nicht in den unterschiedlich prall gefüllten Geldbeuteln der Eltern, sondern im im System der traditionellen Schule insgesamt begründet. Eigentlich wäre die zusätzliche Lernrunde nicht nötig. Denn erst Frontalunterricht treibt SchülerInnen den Anreiz zum vertieften Lernen außerhalb der normalen Schulstunde aus.

LehrerInnen reden sich damit heraus, dass sie keine Zeit hätten, andere, nicht frontal orientierte Unterrichtsformen zu entwickeln oder im Vorhinein zu planen. So jedoch fördern sie die Vereinzelung des Schülers – auf diese Weise begünstigen sie ein Lernen, das vernetzte Gruppenarbeit meidet. Aber gerade Gruppenarbeit ist ein exzellentes Mittel für Lernerfolg. Schüler arbeiten gemeinsam an einer Problemlösung, sie müssen miteinander kommunizieren. Das schafft nicht nur Zusammengehörigkeitsgefühle, sondern auch dauerhafte, weil intensivere, effizientere Wissensspeicherung. Denn einer Person, die dem Schüler hilft, folgt er eher, als einer, der er gleichgültig ist.

Verbindlichkeit stiften

Gruppenarbeit an sich wird von den Schülern außerhalb der Schule im privaten Rahmen längst praktiziert. Schulkollegen treffen sich einen Tag vor der Klausur und lernen den Stoff für die nächste Mathearbeit oder rufen sich abends noch an, um ihre Fragen gemeinsam zu klären. Dabei bilden die Schüler ein gemeinsames Netzwerk – das Mathe-Ass hilft dem schwächeren Schüler. Der wiederum kann in einem anderen Fach helfen.

Auch das banale Abschreiben – Notbehelf in allen Schülerlebenslagen – ist im Grunde nichts als hochkomprimierte Form der Krisenintervention in eigener Sache. Der Schüler wird gezwungen, in äußerst kurzer Zeit Matheformeln zu begreifen und Abläufe der Rechnungen nachzuvollziehen. Auch hierdurch entsteht eine bemerkenswerte Zweier-, ja Gruppendynamik – ein wichtiges Element, um soziale Kompetenz zu grundieren.

Die Ganztagsschule setzt hier insoweit an, als dass sich die Schüler dann in den Pausen oder bei dem gemeinsamen Verrichten der Hausaufgaben treffen und beraten. Damit sind sie dann um 18 Uhr auch fertig – und überhaupt für diesen Tag mit der Schule – und brauchen auf der Fahrt zur Schule nicht mehr die Seite, beispielsweise, im Matheheft des Klassensitznachbarn abschreiben.

Bei der Halbtagsschule dagegen dehnt sich der Schultag oft bis in die Nacht aus. Das Lernen erfolgt autonom, jeder weiß genau so viel, wie er sich angeschaut hat. Damit ist auch jeder auf einem unterschiedlichen Niveau. Bei gemeinsamer Ausarbeitung wären die Unterschiede viel weniger ausgeprägt.

Wissenslücken reparieren

Durch die Nachhilfe wird dieser Effekt der Vereinzelung noch verstärkt. Zwar wird der Schüler nun einzeln betreut und kann fragen, was er oder sie möchte. Doch statt durch den Erwerb neuer Arbeitstechniken flickt der Schüler so nur seine Wissenslücken. Dadurch kann er abhängig werden von den Zusatzstunden – gar schlechter werden, weil nicht gelernt wurde, Lernen auch als Fähigkeit zum Netzwerken zu begreifen.

Obendrein, das wissen alle Bildungspolitiker, fehlt es vielen Schulen aus Geldmangel an plastischen Anschauungsmaterial. Wenn die Schüler abends nicht mehr weiter wissen, kann das nicht nur an unzureichender Aufmerksamkeit des Schülers liegen, dann muss auch im Unterricht etwas schief gelaufen sein: Nur Kinder reicher Familien können ersatzweise sich dieses Material kaufen – für den Biologieunterricht zum Beispiel.

Doch anschauliche Stoffvermittlung scheitert auch an dem Zeitproblem, dass Lehrer gern vorschieben; Unterrichtsvorbereitung sei so nicht möglich. Möglicherweise werden sie noch mehr zu tun bekommen: Als Moderatoren von Schulaufgabennetzwerken in Ganztagsschulen.