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Deutsche Angst

So viele Gespenster. Der Historiker Frank Biess füllt mit seiner Gefühlsgeschichte Westdeutschlands eine Forschungslückefür den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert

Von Jens Uthoff

Es ist fraglos ein guter Zeitpunkt, um über kollektive Ängste zu sprechen: Der Aufstieg des Rechtspopulismus hat viel mit der politischen Funktion negativer Gefühle zu tun; auch die Sehnsucht nach einem neuen Autoritarismus, die mehrere Studien kürzlich nahelegten (z. B. die Leipziger Autoritarismus-Studie und eine Studie der Otto-Brenner-Stiftung), ist ohne Ängste kaum zu erklären. Und der Slogan der „German Angst“, der nach den apokalyptischen Frühachtzigern zum geflügelten Wort wurde, legt ohnehin nahe, dass Deutschland Angstweltmeister ist.

In seinem kürzlich erschienenen Buch „Republik der Angst“ analysiert der Historiker Frank Biess nun die Angstgeschichte Westdeutschlands vom Kriegsende bis zum Mauerfall und füllt damit eine Forschungslücke. Der Rechtsruck war für den Autor offenbar auch ein Motiv, sich dieser Gefühlsgeschichte zu widmen, denn die AfD und der mit ihr einhergehende Rechtspopulismus sei „eine Angstbewegung“, schreibt er gegen Ende.

Welche Ängste in den jeweiligen Epochen vorherrschend waren, hat Biess anhand von Artikeln, behördlichen und privaten Dokumenten untersucht. Der Autor, der Europäische Geschichte an der University Of California lehrt, beschreibt dabei, wie sich die Angstobjekte und die Gefühlskulturen, „emotionale Regimes“, wandelten. „Der Fokus“ liege dabei auf „politischen Ängsten“, schreibt er, wobei die Antinomie privat/politisch im Fall von Ängsten wenig Sinn ergibt.

In der Nachkriegszeit dominierte die Angst vor Vergeltung. Man fürchtete sich vor Racheaktionen durch Juden, die Besatzungsmächte oder die vielen sogenannten Displaced Persons. Die Deutschen fantasierten sich oftmals ungebrochen in eine Opferrolle, ein hier zitierter Tagebucheintrag Ernst Jüngers aus dem März 1945 spricht Bände: „Die Lage der Deutschen ist jetzt ganz so, wie die der Juden innerhalb Deutschlands war.“ Biess schreibt treffend: „Vergeltungsängste dienten dazu, dass sich die Deutschen in der Nachkriegszeit als eine Gemeinschaft imaginierter Opfer konstituierten.“

Weitere typisch deutsche Nachkriegsängste: Angst vor Wohnungsbeschlagnahmungen (die wegen der Wohnungsnot nicht selten waren), Angst vor Entnazifizierungverfahren, Angst vor Gewalttaten von Besatzungssoldaten. Nicht selten wurde dabei der afroamerikanische GI, der die deutsche Frau vergewaltigt, zum rassistischen Konstrukt. Ein weiteres Angstobjekt: das des Anwerbers für die Fremdenlegion. All diese Phänomene wurden (medial) größer gemacht, als sie waren.

Jeder hat eine Chance

In der Zeit des Mauerbaus und der Kuba-Krise existierte, einhergehend mit einem propagierten Antikommunismus, eine erste große Angst vor einem atomaren Krieg. Eine von der Bundesregierung 1962 an 18 Millionen Haushalte adressierte Broschüre zum Luftschutz („Jeder hat eine Chance“) tat ihr Übriges. Was die Arbeitswelt betrifft, war die Angst vor Automatisierung dominant – sie erinnert an die aktuelle Debatte um Künstliche Intelligenz. Innenpolitisch beschreibt Biess diese späte Adenauerzeit als eine des politischen Stillstands und der „demokratischen Ängste“: Liberale fürchteten einen neuen autoritären Staat, Konservative sahen den Staat geschwächt. Die Debatte um die Notstandsgesetze mündete schließlich in die Studentenproteste.

Frank Biess: „Republik der Angst“. Rowohlt Verlag, Hamburg 2019, 624 S., 22 Euro

Mit den 68ern änderte sich die Angstkultur. Aus der Frage nach der verdrängten Schuld und den NS-Kontinuitäten wurde ein öffentlicher Diskurs. Alexander und Margarete Mitscherlichs psychoanalytischer Essay „Die Unfähigkeit zu trauern“ (1967), der die emotional unbewältigte NS-Vergangenheit thematisierte und sich traute, Hitler als Liebesobjekt der Deutschen zu behandeln, leitete ein anderes Denken im Hinblick auf NS und Gefühlskultur ein. Eine weitere kollektive emotionale Zäsur sieht Biess in der Ausstrahlung der TV-Serie „Holocaust“ gut zehn Jahre später (1979).

Mit der Alternativbewegung kam die „neue Sensibilität“, kam der Psychotherapie-Boom. Man setzte sich mit sich selbst, der eigenen Sexualität und dem „Hitler in mir“ (so Ensslin-Freund und Schriftsteller Bernward Vesper), also dem Hitler in jedem von uns, auseinander. Derweil rief die RAF-Gründung in der Mehrheitsgesellschaft Terrorängste hervor und führte zur „RAF-Hysterie“. Die Alternativbewegungen nehmen zu Recht großen Raum bei Biess ein, änderten sich durch sie doch die emotionalen Regime und die Angstobjekte. So verschoben sich die Ängste während der Umwelt- und Friedensbewegung der Achtziger auf die erneute Kriegsangst, die Zerstörung der Natur und den Atom-GAU. Die Kritik an den Bewegungen – wie viel Antiamerikanismus, wie viel Nationalismus steckte in der Friedensbewegung? – streift Biess allerdings nur kurz.

Die Stärke dieses Buches liegt in seiner akkuraten Recherche. Dem Problem, Ängste repräsentativ darstellen zu können, begegnet Biess, indem er sich streng positivistisch auf Aussagen, Statistiken, Fakten bezieht. Die ganz großen Überraschungen bleiben aus. Biess arbeitet sich an der gut aufgearbeiteten BRD-Geschichte entlang; allerdings so, dass man ihm sehr gut folgen kann. Dass er den Zeitraum so beschränkt und sich nur auf den Westen bezieht, ist nachvollziehbar (und doch wünschte man sich im Anschluss direkt eine Angstgeschichte der DDR).

Nur beim Epilog, in dem er auf mögliche Schlüsse für die Gegenwart hinauswill, geht – ausgerechnet – die Exaktheit verloren. Zum Beispiel, als er den historischen Antisemitismus mit der Islamophobie der Gegenwart vergleicht, was mehr Fragen aufwirft als beantwortet. Auch sein Begriff von „Isla­mophobie“ erscheint da etwas unklar – beginnt sie für Biess dort, wo man die patriarchale Struktur der meisten islamischen Gemeinschaften kritisiert? Was aber den Kern seines Sujets betrifft, ist „Republik der Angst“ ein erfreulich gut ­recherchiertes, in seiner argumentativen Klarheit wohltuendes Buch.

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