Viel besser als sein Ruf

Ständig wird Vertrauen gegen das Misstrauen gefordert. Ist das richtig?

Florian Mühlfried: „Misstrauen. Vom Wert eines Unwertes“, Reclam Verlag, Stuttgart 2019, 88 Seiten, 6 Euro

Von Julian Weber

Am 26. September 1983 bekommt Stanislaw Petrow, Kommandant in einem Bunker der sowjetischen Flugabwehr, eine Meldung, die besagt, die USA habe eine Atomrakete mit dem Ziel Sowjetunion auf den Weg gebracht. Petrow leitet die Nachricht nicht weiter, er glaubt an einen technischen Defekt seines Computers. Sein Misstrauen hat die Welt gerettet.

Eine wahre Begebenheit, die der Sozialanthropologe Florian Mühlfried schildert, um die konstitutive Rolle von Misstrauen bei der Willensbildung in Erinnerung zu rufen, aber auch, weil er der Ansicht ist, die Praxis von Misstrauen sei vielfältiger als unser problematisierendes Verständnis von ihr. Im postfaktischen Zeitalter hat Misstrauen Hochkonjunktur. Glaubwürdige Berichte besagen, russische Hacker haben mit gefälschten Social-Media-Konten Desinformation betrieben, um Misstrauen gegen die US-Demokraten zu schüren und den Präsidentschaftswahlkampf 2016 zugunsten von Donald Trump zu beeinflussen.

Von der Bankenkrise über die NSA-Affäre bis hin zum Abgasskandal, Verwerfungen großer Konzerne und fragwürdige Praktiken von Sicherheitsbehörden haben die unbestimmte Angst von BürgerInnen und somit ihr Misstrauen gegenüber der Wirtschaft und den Grundfesten des Staats verstärkt. Demokratie steckt in einer Legitimationskrise, populistische Ideologien sind auf dem Vormarsch. Mühlfried schiebt voraus, Misstrauen sei konstituierend für den modernen demokratischen Staat: Dessen Modell der Gewaltenteilung ist explizit aus einem Misstrauen gegenüber totalitären Herrschafts­instrumenten entstanden.

In dem Band „Misstrauen. Vom Wert eines Unwertes“ schlüsselt der Hamburger Wissenschaftler überzeugend die unscharfe moralische Kategorie des Begriffs auf. Er stellt anhand einer Spektrenanalyse eine Skala von Misstrauen dar: seine nach außen gerichteten – zentrifugalen – und nach innen wirkenden – zentripedalen – Potenziale. Zu starke zentrifugale Kräfte von Misstrauen (etwa im Weltbild islamistischer Terroristen) bedrohen eine Gesellschaft. Mühlfried erscheint die zentripedale Eigenschaft von Misstrauen als „Grundlage für Engagement“ dagegen demokratiefördernd, etwa von einer NGO, die Bauern Mikrokredite gewährt.

Auf gesellschaftlicher Ebe­ne argumentiert Mühlfried mit dem Soziologen Niklas Luhmann. Misstrauen ist nicht nur das Gegenteil von Vertrauen, sondern auch sein funktionales Äquivalent. „Im Namen der Demokratie Vertrauen zu fordern ist paradox, denn die Praxis Demokratie schließt Misstrauen ausdrücklich ein.“ Heute habe der Diskurs um Vertrauen allerdings hegemoniale Züge angenommen. Für die Zukunft prognostiziert Mühlfried, dass Misstrauen zur Überlebenstechnik wird, weil es die Kraft hat, „Herrschaftsverkrustungen aufzubrechen“.