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Archiv-Artikel

Schaltet das Fernsehgerät aus!

VON CHRISTOPH TÜRCKE

Wer in ein Land einwandert, muss sich nach dessen Gesetzen richten. Das ist überall so und auch unvermeidlich, solange es kein homogenes Weltrecht gibt. Deutsche, die nach Istanbul ziehen, können nicht ihr deutsches Strafrecht mitbringen und verlangen, nur danach beurteilt zu werden, genauso wie Türken, die nach Berlin oder Stuttgart umsiedeln, dort keine türkische Rechtsprechung für sich reklamieren können.

Allerdings wird menschliches Zusammenleben nicht nur durch Gesetze geregelt. Noch vieles andere tritt hinzu: Sitten, Gebräuche, Rituale, Umgangsformen, Gewohnheiten, Vorlieben, Einstellungen, Weltanschauungen. Sie sind oft nicht scharf voneinander zu trennen, überlagern, überblenden, überlappen einander, sind viel weniger greifbar als Gesetze, aber nicht minder alltagsbestimmend. Sie machen sozusagen das Weichbild des Zusammenlebens aus. Wenn die Gesetze dessen Skelett sind, sind sie sein Fleisch und Blut: dasjenige, wodurch aus einer Menschenansammlung ein lebendiger kultureller Zusammenhang wird.

Die Gesetze eines Landes mögen unzulänglich sein, aber sie sind definiert. Sein kulturelles Weichbild hingegen ist vage. Wer daraus harte Fakten der Asyl- und Einwanderungspolitik schlagen will, dem kann es ergehen wie der CDU, als sie folgende Sprachregelung versuchte: Gern dürfen Einwanderer ihre kulturellen Besonderheiten mitbringen, aber sie müssen sie der deutschen Leitkultur unterordnen. Und schon war die Definitionsnot groß.

Was soll denn das sein, deutsche Leitkultur? Die typisch deutschen China- Restaurants, Pizzerien, Gyros- und Dönerbuden, die Hollywood- und Kung-Fu-Filme, HipHop und Rap, Glatzen und Piercing, Baseballkappen und Turnschuhe? Fast überall, wo man typisch Deutsches fassen möchte, ist es bereits von anderem durchwirkt. Einigermaßen zweifelsfrei als deutsch definieren lässt sich vielleicht nur noch die deutsche Sprache.

Allerdings treffen diejenigen einen wunden Punkt, die sagen: Wer in ein Land einwandert, muss dessen Sprache lernen. Das versteht sich keineswegs von selbst. Ein Blick auf Nord- und Südamerikas genügt. Die dortigen Landessprachen sind Mahnmale eines großen Völkermords an der amerikanischen Urbevölkerung. Die eigene Sprache in einem andern Land durchsetzen kann man nur gewaltsam, etwa wenn man als Eroberer eindringt.

Aber auch wenn man als kleiner Einwanderer kommt: Das Sicheinüben in die Fremdsprache ist nie ganz ohne die sublime Gewalt, die man sich antun muss, um diese Phase durchzuhalten. An ihrem Anfang ist man geradezu unmündig, kann sich nicht wie gewohnt ausdrücken, sucht nach Worten, ist unbeholfen wie ein Vogel, dem die Flügel gestutzt sind.

Nichts erleichtert diese Durststrecke so sehr wie Liebschaften mit Einheimischen. Niemand macht so gelehrig für fremde Sprachen und Sitten wie Eros. Aber nicht immer kommt er so zum Zuge, wie er’s gern hätte, und auch unter günstigsten Bedingungen bleibt die Einübung eine Durststrecke. Wenn es Möglichkeiten gibt, sich davor zu drücken: Wer wäre nicht in der Versuchung, sie zu ergreifen?

In ländlichen Gegenden bildeten Einwanderer früher ihre eigenen Kolonien, regelten nur das Nötigste mit den Behörden des Landes und pflegten ansonsten angelegentlich ihre Sprache, Sitten und Gebräuche. In den Schmelztiegeln der Städte ging das nicht. Da musste man die Durststrecke durchqueren, und je mehr Leidensgenossen man dabei hatte, desto leichter fiel es. In den Vierzigerjahren lief in New York das Bonmot um: „After one week: a New Yorker. After four weeks: a typical New Yorker.“

Man sollte denken, heute, wo kein Dorf mehr so entlegen ist, dass dort nicht in jeder zweiten Hütte ein Fernseher flimmert, sei New York gewissermaßen überall, der ganze Globus ein kultureller Schmelztiegel. Doch genau das ist ein Irrtum.

Die modernen Massenmedien erleichtern nicht einmal die Einübung in die eigene Muttersprache. Sie begünstigen vielleicht das Sicheinhören in sie, erweitern den Wortschatz über den am heimischen Küchentisch üblichen hinaus; aber zugleich lenken sie von einem gründlichen Sicheinlesen und Einschreiben ab. Jeder gesehene Film ist ein ungelesenes Buch, jede SMS ein ungeschriebener Brief.

Wie es längst schon einen erweiterten Kunstbegriff gibt, der auch Pissoirs und Fettecken museumsfähig gemacht hat, so gibt es nun einen erweiterten Lesebegriff, für den Bilder, Symbole, Allegorien nichts grundsätzlich anderes sind als Buchstaben, nämlich Zeichen, die man entschlüsseln muss. Das Verfolgen von bewegten Bildsequenzen gilt demnach ebenso als Lesen wie das Entziffern von Texten.

Gewiss, das Bilderlesen, will sagen, das schnelle Einordnen flüchtiger visueller Eindrücke ist eine Kompetenz, ohne die sich in der modernen Medienlandschaft niemand mehr erfolgreich bewegen kann. Eine neue globale Gemeinsamkeit. Aber was, wenn sie auf Kosten der Vertiefung in die eigene Muttersprache erworben wird? Dann läuft ihr interkulturelles Verständigungspotenzial leer.

Genau diese Gefahr zeichnet sich ab. Gerade wenn überall alle Fernsehsender zu empfangen sind, blüht eine neue Art von Regionalisierung. Man kann zum Beispiel die heimische Medienlandschaft aus der Türkei mit nach Deutschland nehmen. In der deutschen Umgebung tut man nur noch das Nötige zum Lebenserhalt, zieht sich ansonsten in seinen Wohnbereich zurück und versucht, umgeben von seiner türkischen Fernsehkulisse, sein gewohntes türkisches Leben mit türkischer Familienraison fortzusetzen.

Ähnliches gilt für die Latinos in den USA. In beträchtlichen Regionen um Los Angeles und San Diego wird die Weltsprache Englisch nicht mehr gelernt. Man spricht spanisch. Man mag diesen Zustand Multikulturalität nennen. Die Einheimischen haben ihre Kultur, die Einwanderer bringen ihre mit, jeder pflegt seine, und gelegentlich gibt es einen Karneval der Kulturen, der die Vielfalt im Land zur Schau stellt.

Doch diese Art kultureller Buntheit ist auch der Nährboden für neue Ghettos und Parallelgesellschaften, zu denen russische, türkische, arabische Subkulturen in Mitteleuropa ebenso tendieren wie in den USA lateinamerikanische oder ostasiatische. Während die neue globale Bildlesekompetenz wächst, bricht etwas Elementares weg: die Verständigungsplattform einer gemeinsam gesprochenen und geschriebenen Sprache. Und die kommt eben nicht so zustande, wie Theodor Herzl sie sich für seinen Judenstaat erträumt hatte: dass jeder seine Sprache mitbringt und man sich dann friedlich auf diejenige einigt, die allen am schönsten oder einfachsten scheint. Wem wäre die eigene Sprache denn nicht die liebste? Sie ist ein entscheidender Identitätsbildner. Die gesamte Lebensweise und Erinnerung ist davon geprägt. Muttersprachen sind nicht austauschbar.

Gerade deshalb ist in einem Kulturraum eine Leitsprache unerlässlich. Auf ihr zu bestehen ist nicht kulturimperialistisch, sondern eine Grundbedingung sozialen Friedens. Die lässt sich umso leichter erfüllen, je mehr schon von klein auf Kinder mit Fremdsprachen vertraut gemacht werden und ein Gefühl dafür bekommen, was es heißt, sich ins Fremde einzuüben. Ein Land, das Asylanten und Einwanderer aufnimmt, hat nicht nur das Recht, das Erlernen seiner Sprache zu fordern, es hat auch die Pflicht, menschenwürdige Möglichkeiten dafür bereitzustellen.

Diese Pflicht aber wird drückender. Die herrschende Politik verschließt vorerst noch die Augen davor, wie sehr die massenmediale Globalisierung das Hineinwachsen in die jeweiligen Landessprachen erschwert. Unter anderem aus Sorge, die politische Rechte könnte auftrumpfen und sagen: Wenn es so schwierig ist, dann dürfen eben keine ausländischen Arbeitskräfte mehr ins Land. Darunter litte nicht nur die nationale Teilhabe am internationalen Kapitalfluss, der immer auch Menschen mitspült. Es wäre auch alles bedroht, was an konkreter Völkerverständigung immerhin erreicht ist.

Umso beherzter ist zuzugeben: Sprachliche Integration steht vor einer qualitativ neuen Bewährungsprobe. Nicht nur ist das Angebot an Sprachkursen zu verbessern und die erfolgreiche Teilnahme an ihnen stärker zu überwachen. Auch die Einheimischen müssen lernen, ihre Sprache im alltäglichen Umgang als Leitsprache zu bewähren. Wer andere in sie hineinnehmen will, muss sie in doppeltem Sinne selbstbewusst sprechen: sich sowohl ihrer sicher sein als auch fähig, reflektierte Distanz zu ihr einzunehmen.

Zur Leitsprache gehört unweigerlich eine gewisse Dominanz. Ausgeschlossen, dass Einheimische genauso in die Sprachen der Einwanderer hineinwachsen wie diese in ihre. Andererseits gehört zum Leiten Offenheit: die Fähigkeit, aus dem Wortschatz der anderen signifikante Ausdrücke und Wendungen ins eigene Vokabular zu übernehmen. Wo aber sind im Deutschen jene spanischen, italienischen, griechischen, serbischen, türkischen, arabischen Fremdwörter, die sich als Zeugnis der langjährigen Mitbürgerschaft von Einwanderern aus dem Mittelmeerraum lesen ließen?

Stattdessen: englisch, englisch, englisch. Die Eigenständigkeit einer Sprache hört dort auf, wo sie die Fremdwörter nicht mehr sensibel absorbiert, sondern sich davon überschwemmen lässt. Natürlich hilft es der globalen Verständigung, wenn überall Englisch als erste Fremdsprache gelernt wird. Der Versuch jedoch, daraus eine Weltleitsprache zu machen, wäre Kulturimperialismus und gerade kein Beitrag zu vertieftem wechselseitigem Verstehen.

Leitsprachen sind regionale Gebilde. Ihre Grenzen sind oft unscharf, fallen keineswegs immer mit Staatsgrenzen zusammen, sind stets auch Dokumente von Überwältigungs- und Unterwerfungsprozessen – und dennoch gewachsene, erfahrungsgesättigte Verständigungsbasen. Ihre Ersetzung durch eine Welteinheitssprache wäre ebenso fatal wie ihre Auflösung in ein allgemeines Sprachengemisch.

Sprache verrät, was wünschenswerte Interkulturalität wäre: so etwas wie gelungene Übersetzung. Multikulturalität ist nicht genug. Weltkulturbrei wäre zu viel. Genau diese beiden Modelle aber begünstigt der globale Kapitalismus. Kein Land der Welt gestattet freiwillig die Einwanderung in die Arbeitslosigkeit. Einwanderer müssen einen Arbeitsvertrag oder eine gleichwertige Bürgschaft dafür vorweisen, dass sie dem Staat nicht auf der Tasche liegen. Und solange der Staat dazu da ist, diejenigen aufzufangen und zu versorgen, die von der globalen kapitalistischen Wirtschaftsordnung unbeschäftigt liegen gelassen werden, ist ihm das nicht einmal zu verübeln.

So falsch die Behauptung ist, jeder Einwanderer nehme einem Einheimischen den Arbeitsplatz weg, so wenig ist doch das generelle Konkurrenzverhältnis zu leugnen, in das der Weltmarkt Arbeitende und Arbeitslose versetzt. Er ist ein großer Mixer, macht Landesgrenzen durchlässig, saugt Kapital und Arbeitskräfte von überall an. Aber ebenso treibt er zwischen all die Elemente, die er vermischt, den Keil der Konkurrenz. Und wo die Konkurrenz existenziell wird, da verblasst schon die innerkulturelle Solidarität, erst recht die interkulturelle.

Solange aber das globale Wirtschaftsgesetz, das dazu zwingt, sich entweder auf dem Markt zu behaupten oder zu verkommen, nicht auszuhebeln ist, bleibt nur eines: es durch politische Gesetzgebung wenigstens so weit wie möglich abzufedern – durch Gewährleistung von Menschenrechten. Doch auch hier können Gesetze nur ein Skelett liefern: bestimmte Freiheiten festschreiben, etwa freie Wahl von Wohnort, Beruf, Lebenspartnern, Partei oder Religion; oder die rechtliche Gleichbehandlung ungeachtet des Geschlechts, der sozialen Stellung, ethnischen Zugehörigkeit oder politischen Einstellung.

Allerdings sorgt dieses Skelett noch nicht dafür, dass Menschen wirklich Recht geschieht. Menschenrechte sind mehrdeutig. Sie können etwa so verstanden werden, dass auf dem Markt alle frei und gleich sind, ohne Ansehen der Person kaufen und verkaufen dürfen und selbst zusehen müssen, was aus ihnen wird, wenn sie ihre Waren nicht loswerden.

So gesehen kann man im Vollbesitz verfassungsmäßig garantierter Menschenrechte verhungern. Das gesetzliche Skelett allein tut’s nicht. Zum einen bedarf es ständiger Wartung und Verstärkung, etwa durch Festschreibung minimaler Verfügungsrechte über Wohnraum und Lebensmittel für alle, egal ob erwerbstätig oder nicht.

Vor allem aber ist es mit Fleisch und Blut zu umgeben: in alltägliche Sitten, Gebräuche, Umgangsformen zu übersetzen. Erst durch Übersetzung werden Menschenrechte zur Kultur, nicht durch Export. Wenn sie nach Afrika und Asien gelangen wie Coca-Cola und Volkswagen, wenn sie gar durch Krieg eingepflanzt werden wie in Afghanistan und im Irak, dann wird von höchsten Stellen Menschenrechtsbarbarei betrieben, nicht Menschenrechtskultur.

Solange Menschenrechte als Schmiermittel des Weltmarkts fungieren, verdienen sie den Namen Kultur kaum. Sobald sie aber zähmend auf den Weltmarkt einwirken, um nicht zu sagen, leitend, warum sollen sie da nicht den Ehrennamen „Leitkultur“ bekommen? Selbst wenn es mit ihrer Leitung nicht weit her ist. So lammfromm wie gelegentlich der Dompteur den Löwen werden sie den Kapitalismus nie umherführen. Dennoch können sie ihn in gewissen Grenzen immer wieder vorführen und damit deutlich machen: Erst wenn er bis zur Nichtidentität gezähmt wäre, könnte den Menschen im Vollsinn des Wortes Recht geschehen. Eine Leitkultur, die darauf aus ist, versteht unter „leiten“ nicht nur „führen“, sondern auch „überleiten“. Sie ist Katalysator zum Besseren.

Das Wort Leitkultur ist also nicht zu verwerfen, sondern zur Vernunft zu bringen. Leitsprache? Es geht nicht ohne sie. Sie ist der Prüfstein aller kulturellen Übersetzung. Leitkultur? Ohne sie gibt es keinen Widerstand gegen den Mainstream des Kapitals. Aber nur wenn sie selbst schon interkulturell ist. Sie muss universale, aber damit eben auch abstrakte Menschenrechte in konkrete kulturelle Kontexte übersetzen und in Südasien, Mitteleuropa und Nordamerika durchaus so verschiedene Gestalten annehmen können wie jede gesprochene Sprache verschiedene Akzente. Um Himmels willen aber keine nationale Leitkultur, die sich durch Stolz aufs eigene Land, seine Hymne, Flagge und Fußballmannschaft für alle Entbehrungen des Alltags zu entschädigen sucht.