: Die Wurzeln der Haare
Sie wachsen, werden plötzlich grau, kraus oder fallen aus. Was der Zustand der Haare über Haut, Hormonstoffwechsel und andere körperliche und seelische Verfassungen aussagt
Gespräch Bernd Müllender
taz am wochenende: Herr Lichtenstein, was treibt Patienten mit Haarproblemen zum Arzt?
Henning Lichtenstein: 90 Prozent sind Kosmetik, meist Haarausfall. Die Leute finden Haare auf dem Kopfkissen oder in der Duschwanne. Oder sie sagen: Meine Haare werden dünner. Dann denken die Patienten, sie bekommen eine Tinktur oder eine Pille – und alles ist wieder gut.
Ist Koffeinshampoo, das Haarausfall stoppen soll und mit „Doping für die Haare“ wirbt, Humbug?
Eine große Marketingnummer ist das.
Ähnlich wirksam ist eine starke Tasse Kaffee?
Preiswerter und wahrscheinlich wirksamer, ja. Wenn man den Ursachen von Haarausfall ernsthaft auf den Grund gehen möchte, braucht man viel Zeit und lange Gespräche. Das Haarwachstum wird von innen, aus dem Körper, gesteuert. Von außen sind fast nie krankhafte Dinge an Haaren oder Kopfhaut zu erkennen. Die wichtigste Frage ist die nach inneren Erkrankungen oder nach besonderen Ereignissen, die den Körper aus dem Gleichgewicht gebracht haben.
Was kann das sein?
Zum Beispiel eine Operation, ein fiebriger Infekt, ein Unfall mit Blutverlust, was dann zu einem Eisenmangel führt, irgendein schwerwiegendes Ereignis oder auch seelischer Stress. Ein typisches Ereignis, bei dem viele dieser Faktoren zusammenkommen, ist eine Geburt. Das kann Folgen für die Haare haben. Haarausfall ist oft ein Indikator, man hat oder hatte was. Ich frage Patienten schon mal provokant: Haben Sie ein Blutbild mitgebracht? Dann gucken mich die Leute an: Wie, was?
Also sind Haarerkrankungen selten?
Wirklich primäre Haarerkrankungen können extrem seltene Haarstrukturstörungen sein. Man kann ein Trichogramm machen, da guckt man sich die Haarwurzeln im Mikroskop an. Mit einer Biopsie kann man Entzündungen auf die Spur kommen, dazu wird ein Stück Kopfhaut mit Haarwurzel entnommen. Vielleicht findet man eine Pilzinfektion. Aber dann fallen die Haare nicht aus, sondern man sieht unter dem Mikroskop, dass sie abgebrochen sind, und man kann Pilzsporen und Pilzfäden finden.
Manche gehen von der Pubertät fast nahtlos in die Glatzenbildung. Ist solch juveniler Haarausfall angeboren?
Jeder zweite Mann ist im Laufe seines Lebens von Haarausfall betroffen, manche sind es genetisch bedingt eben sehr früh.
Warum bleibt oft ein unterer Haarkranz?
Die Wurzelstruktur ist genetisch so determiniert, dass die Haare dort dichter, strukturierter und langlebiger sind. Stoffwechsel und hormonelle Steuerung sind dort anders.
Warum hat man überhaupt Haare?
Das sind Reste unseres Fells aus Zeiten, als wir noch Affen waren. Bei dem Warum muss man immer fragen: Welche und wo? Schutzfunktion, um Schweiß zu stoppen, Wärmeregulierung und, ganz wichtig, sozial als sekundäres Geschlechtsmerkmal. Sagen wir es so: Am Behaarungsmuster – Bart, verschiedene Formen der Schambehaarung – kann man fast blind das andere Geschlecht erkennen.
58, Dermatologe in Eschweiler, hat es neben seinem Faible für Härchen auch sportlich gern klein: er mag Tischtennisbälle
Sind Haare eigentlich schön?
Der Mensch hat eine glatte Haut, und da wachsen senkrecht so komische dünne, lange Dinger raus.
Das ist eine interessante Frage. Ehrlich, darüber habe ich mir noch keine großen Gedanken gemacht. Ich würde sagen: Es kommt drauf an, was man draus macht. Haare werden heutzutage sehr stark manipuliert, geschnitten, geglättet, gewellt, gefärbt. Davon lebt eine riesige Industrie. Tja, und das finden die meisten Menschen dann schön. Haarwurzeln unter dem Mikroskop sehen auch sehr interessant aus. Viele sind mit ihrem Haarkleid insgesamt nicht zufrieden. Und das Haarkleid ist extrem wichtig für das soziale Miteinander und sehr überfrachtet. Das zieht sich durch alle Epochen der Geschichte. Heute finden viele Frauen und manche Männer kein einziges Haar jenseits des Kopfes mehr schön. Dann rasieren sie und waxen alles weg, weil alles rein und jungfräulich erscheinen soll. Also gilt: permanent rasieren. Da freuen sich unsere allgegenwärtigen Keime auf kleine Verletzungen, vor allem im Genital- und Analbereich. Solche Leute habe ich dann als Patienten mit Entzündungen der Haarwurzeln. Man kann auch lasern.
Ich kann zum Hautarzt gehen und sagen: Lasern Sie meine Schamhaare weg? Ist das eine Kassenleistung?
Nein, Lasern ist keine Kassenleistung. Behaarung ist in der Regel eben nicht Ausdruck von Krankheit. Deswegen ist eine Laserbehandlung nicht medizinisch notwendig und damit nicht zulasten der gesetzlichen Krankenkasse abrechenbar. Übrigens: Wenn man Patienten seriös über das Lasern aufklärt, sollte man nicht „Haarentfernung“ sagen, sondern „langfristige Haarreduktion“. Auch wenn es Monate dauern kann: Irgendwann können Haare wieder auftreten.
Wachsen Haare im Alter langsamer?
Ja, das ist so. Der gesamte Stoffwechsel wird ja langsamer. Wenn man jung ist, wächst das Kopfhaar gut einen Zentimeter pro Monat.
Warum werden sie grau? Lässt die Pigmentproduktion nach?
Die Pigmentierung ist ein Phänomen der gesamten Haut und betrifft deshalb auch die Haare. Ergrauen ist eine typische Alterungserscheinung, die gibt es auch im Tierreich: Alte Hunde werden grau um die Schnauze, der Gorilla kriegt einen Silberrücken. Beim Menschen sind es auch zuerst die Kopfhaare und der Bart.
Und warum bei manchen kaum oder gar nicht?
Die Pigmentierung ist genetisch gesteuert und damit vererbbar. Aber erblich heißt nicht: Die Eltern haben es, die Kinder kriegen es automatisch auch. Letztlich ist es nicht nur ein einzelnes bestimmtes Gen, das die Haarqualität bestimmt, sondern es sind viele Gene.
Warum erwischt es fast nur Männer?
Eine Hormonfrage. Die Balance zwischen weiblichen und männlichen Hormonen bestimmt das Leben der Haarwurzeln. Männliche Hormone verkürzen das Leben der Kopfhaare, weibliche Hormone bewirken das Gegenteil. Diese hormonelle Steuerung kann man übrigens medikamentös beeinflussen. Finasterid heißt der Wirkstoff, der von Männern auf der ganzen Welt eingenommen wird, um den stetigen Verlust von Kopfhaaren zu vermeiden. Wenn die Haarwurzel aber erst einmal verkümmert ist, hilft nichts mehr.
Zu viel Testosteron ist also schlecht fürs Haar?
Kann man so sagen. Aber die im Blut messbaren Hormonspiegel sind dennoch nicht aussagekräftig, sondern der Hormonumsatz der jeweiligen Haarwurzeln. Und der ist genetisch festgelegt: von Mensch zu Mensch unterschiedlich, von Hautregion zu Hautregion unterschiedlich. Anzahl und Länge der Haare sind unabhängig vom Blutspiegel. Das Messen der Hormone ist also meist sinnlos: Wenn man in den Tank eines Autos schaut, kann man auch nicht sehen, wie schnell das Auto fährt. Ein hoher Testosteronspiegel bedeutet noch nicht, dass die Gefahr der Glatzenbildung größer ist. Entscheidend sind das hormonelle Gleichgewicht und die Aktivität des Hormonstoffwechsels an der Haarwurzel.
Das bedeutet, die Neigung zur Glatze ist kein Zeichen mächtiger Potenz?
Alles Mythos. Ist auch wissenschaftlich gut untersucht.
Ein anderer Mythos: Häufig rasieren und Haare schneiden, dann werden die Haare dichter und dicker.
Auch falsch. Was aus der Haarwurzel wächst, hängt von Nährstoffen und hormoneller Steuerung ab. Ob ich einen toten Strang, das Haar, abschneide, hat darauf, was in der Haarwurzel in der Tiefe passiert, keinen Einfluss. Subjektiv erscheint nach dem Rasieren der Eindruck, dass der nachwachsende Stummel dick und senkrecht ist, wie ein Draht. Aber das Haar war vorher unten an der Haut genauso, man hat es nur nicht so gut gesehen.
Noch ein Mythos: Gibt es wenigstens die Spontanergrauung über Nacht?
Ja, die gibt es tatsächlich. Alopecia areata in diffuser Form. Eine autoimmune Reaktion. Auslösung erfolgt durch Stress zum Beispiel.
Es gibt Berichte darüber bei Marie-Antoinette und bei Karl Marx nach dem Tod seines achtjährigen Sohnes. Und eine Freundin von mir hat abends ihren Partner beim Fremdgehen mit ihrer Freundin in flagranti erwischt. Ein fürchterlicher Schock. Am Morgen danach, erzählte sie, habe sie beim Blick in den Spiegel gedacht, das bin nicht ich. Alles schimmerte grau!
Der kreisrunde Haarausfall, also das Verlieren von ganzen Büscheln auf großen Flächen, kann für die Betroffenen schon recht bedrohlich sein. Wie genau es dazu kommt, weiß man nicht. Stress wird unter anderem über die Nebennieren hormonell gesteuert, da werden Stresshormone wie Adrenalin und Cortison gebildet. Bei keinem anderen dermatologischen Patienten hört man so oft auf Nachfrage: Ja, da war was in der Vorgeschichte!
Warum wachsen Haare im Alter dämlicherweise woanders, in Ohren oder Nase?
Ist einfach so. Auch die dichteren Augenbrauen bei älteren Männern sind bekannt. Es gibt eben nicht das Haar. Jede Körperregion hat ihr Haar, ganz eigen, ganz speziell, mit ganz besonderen Eigenschaften.
Warum wächst Schamhaar nicht weiter oder Beinhaar?
Auch das ist Folge der genetischen Steuerung der Haarwurzeln. Behaarung ist von Region zu Region anders ausgestattet, unterschiedlich programmiert. Selbst auf der Stirn, auf der man auf den ersten Blick keine Haare erkennen kann, gibt es ja Haarwurzeln und manchmal einen ganz feinen Flaum. Auf lange Schamhaare, um Gottes willen, würde man am Ende drauftreten.
Früher waren Schuppen ein großes Problem. Das Phänomen scheint verschwunden. Ist das so? Und wenn ja, warum? Was sind Schuppen überhaupt?
Schuppen entstehen durch die permanente natürliche Regeneration der Kopfhaut, sind also eigentlich normal. Allerdings nur, wenn man sie nicht sieht, die Schuppen also mikroskopisch klein sind. Deutliche und vor allem auch juckende Schuppen können Folge einer gestörten Hautflora sein. Das ist die Keimbesiedlung auf dem Kopf, die Zusammensetzung der Bakterien und Pilze. Manche Menschen reagieren auf Bestandteile der Keime quasi allergisch. Dann kommt es zu Juckreiz, manchmal auch Rötung und sichtbarer Schuppenbildung. Schuppenshampoos enthalten fast immer Wirkstoffe gegen Mikroben. Damit lassen dann der Juckreiz und die Schuppenbildung nach. Die feine Hautschuppung von der gesamten Hautoberfläche wird übrigens zu dem, was wir Hausstaub nennen; die gröbere sehen wir als Schuppen auf dem Kragen.
Warum wächst aus einer Warze gern ein Haar oder zwei?
Aus virusbedingten Warzen wachsen niemals Haare. Die Hautknötchen, aus denen Haare herauswachsen, sind Muttermale. Viele Haarwurzeln haben tatsächlich zwei oder drei Haare. Das nennt man Pili multigemini.
Viele haben glatte Haare, andere sind lockig. Es gibt krause Haare, dünne Haare, dichte Matten. Eine Laune der Natur?
Ja. Das liegt am Bauplan der Haarproteine. Proteine bestehen aus Ketten von Aminosäuren, und diese bedingen das Aussehen – mit ziemlichen Unterschieden. Das kann bis hin zu Struwwelpeter-Haaren gehen, im Volksmund auch Korkenzieherlocken genannt.
Solche Struwwelpeter-Haare gibt es wirklich?
So ist es. Das Phänomen tritt schon in der Kindheit auf. Erst wachsen die Haare sehr spät, und dann sind sie ganz hell und dünn. Normalerweise wachsen Haare lang und fallen wegen der Schwerkraft nach unten. Anders bei den Struwwelpeter-Haaren, die man medizinisch Pili torti nennt.
Das heißt?
Verdrehte, verschlungene Haare.Jedes einzelne Haar ist in sich verdreht in dieser Korkenzieherstruktur. Man nennt das auch das Syndrom der unkämmbaren Haare. Mit der Pubertät unter dem Einfluss der Hormone ist das Problem zwar noch vorhanden, jedoch nicht mehr so sichtbar. Aber es geht auch andersherum: Neulich hatte ich einen jungen Mann mit einer sehr seltenen Haaranomalie in der Sprechstunde. Er hat eigentlich glattes Haar, das aber ohne besonderen Grund zunehmend kraus wird. Das nennt sich acquired progressive kinking of hair. Haare können immer Überraschungen parat haben.
Pili torti haben zum Struwwelpeter-Bild geführt, als mahnende Karikatur: Du sollst dir immer die Haare kämmen und die Fingernägel schneiden?
Das vermutet man. Auch wenn man Pili torti erst in den 1970er Jahren wissenschaftlich beschreiben konnte. Und 2016 haben internationale Forscher, darunter eine Wissenschaftlerin aus Bonn, die drei Gene identifiziert, die dafür verantwortlich sind.
Reden wir über einen letzten Mythos: „Wo ein Haar wächst, ist nichts Böses drunter“, sagt der Volksmund und auch schon mal ein Arzt. Sind Haare tatsächlich ein Indikator für gesunde Haut?
Wenn ein Arzt diesen Satz beim Beschauen eines Muttermals äußert, handelt es sich wahrscheinlich um ein sogenanntes kongenitales, das heißt angeborenes, Muttermal. Solche Muttermale bestehen nicht ausschließlich aus Pigmentzellen, sondern enthalten auch andere Hautstrukturen wie eben zum Beispiel einzelne, zum Teil dickere Haare. Solche kongenitalen Muttermale sind in aller Regel gutartig, auch auf Dauer. Demgegenüber gibt es die rein aus Pigmentzellen aufgebauten erworbenen Muttermale. Hierbei ist die anatomische Feinstruktur der Haut im Grunde vollkommen normal. Haare sind in diesen Pigmentzellhaufen aber nicht konzentriert oder verdickt vorhanden. Solche Muttermale können entarten. Indes: Wo ein Haar wächst, ist nichts Böses drunter, das gilt, auf den Kopf bezogen, natürlich nicht, denn dann wären alle Menschen mit Haaren auf dem Kopf liebe Menschen.
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