: Die Perle der Ostsee
Schwedens größte Insel Gotland bietet mildes Klima, einsame Sandstrände, bizarre Felsformationen und die als Weltkulturerbe geadelte Haupt- und Hansestadt Visby
Von Sven-Michael Veit
Die Fantasie beflügeln sie auf alle Fälle. An „Statuen, Pferde und allerlei Geister und Teufel“ erinnert fühlte sich einst Carl von Linné, der große schwedische Naturforscher, beim Anblick der Raukar auf Gotland, der größten schwedischen Ostsee-Insel. Bizarre Kalksteinsäulen sind es, manche nur zwei oder drei, andere mehr als zehn Meter hoch. Hunden oder Kamelen gleichen einige, andere Adlern, in viele können menschliche Gesichter hineininterpretiert werden. So wie beim Hoburgsgubben, dem Hoburgs-Greis an der Südwestspitze der Insel. Der höchste Rauk ist die sitzende Jungfrau in Lickershamn nördlich der Inselhauptstadt Visby, die 27 Meter hoch über dem Steilufer emporragt.
Entstanden sind die gotländischen Raukar nach der letzten Eiszeit durch Erosion und Auswaschungen der unterschiedlich harten Kalk- und Mergelgesteine im Küstenbereich. Das größte und bei einer Strandwanderung leicht erreichbare Raukargebiet ist Folhammar an der Ostküste, gleich nördlich des großen Seebades Ljugarn, mit hunderten Raukar in allen denkbaren Größen, Formen und Gestalten. Auch auf den Nachbarinseln Öland und Fårö sind sie zu finden, diese unverwechselbaren Naturdenkmäler der mittleren Ostsee.
Gotland, mit rund 3.000 Quadratkilometern viermal so groß wie Hamburg, bietet mildes Klima, einsame Sandstrände und spektakuläre Steilküsten und ist im Sommer ein vor allem bei Schweden und Deutschen beliebtes Urlaubsziel. Außerhalb von Juli und August geht es hingegen weitgehend gemächlich zu. Zwar sind dann auch viele Restaurants und Cafés geschlossen oder nur am Wochenende geöffnet, dafür hat man am Strand oder bei Radtouren auf der weitgehend flachen Insel seine Ruhe.
Eine Ausnahme bildet Visby, die lebendige Hauptstadt, in der fast die Hälfte der rund 57.000 Insulaner lebt. „Visby ist ein hervorragendes Beispiel einer nordeuropäischen Hansestadt, mit einer mittelalterlichen Stadtmauer umgeben“: So begründete die Unesco 1995 die Ernennung der Stadt zum Weltkulturerbe.
Die massive und bis zu zwölf Meter hohe Stadtmauer mit 27 Türmen und Toren aus dem 14. Jahrhundert, die am besten erhaltene in Skandinavien, ist schon bei der Anreise mit der Fähre vom Festland von Weitem zu erkennen. Auf einer Anhöhe über dem Hafen umschließt sie fast vier Kilometer lang die pittoreske Altstadt, die fast vollständig für Autos gesperrt ist.
Der Marien-Dom, zwei Klöster, 13 Kirchenruinen, rund 200 mittelalterliche Fachwerkhäuser, zahllose Kopfsteinpflastergassen und der große Park Almedalen sind die Hauptsehenswürdigkeiten der einzigen Hansestadt in der Ostsee. Dass Visby heutzutage einem von Touristenmassen durchströmten Freilichtmuseum gleicht, ist die Kehrseite der Schönheit einer Stadt, die Touristiker „Perle der Ostsee“ genannt haben.
Sei’s drum. Wem das Gewusel zu viel wird, der vergnüge sich an den mannigfachen Natur- und Kulturschätzen im dünn besiedelten Rest der Insel, welche der Germanenstamm der Goten vor rund 2.000 Jahren verließ, um auf dem Kontinent für Unruhe zu sorgen. Gräberfelder aus der Bronzezeit zeugen von diesen frühen Siedlern. Das größte ist Digerrojr auf einer Kuhweide südwestlich von Ljugarn. 30 Meter lang und vier Meter hoch ist das Steingrab Gålrum, umgeben von zahllosen Steinsetzungen.
Anreise nach Gotland mit dem Auto per Fähre von Oskarshamn, Buchung zum Beispiel über www.direktferries.com. Mit Zug oder Bus via Kopenhagen und Kalmar nach Oskarshamn, Flüge aus Norddeutschland nach Visby nur via Stockholm.
Die Torsburg im Osten der Insel könnte man erklettern, eine der größten Wallburgen Skandinaviens auf einem 69 Meter hohen Kalksteinplateau von fast fünf Kilometern Umfang. Im 1. Jahrhundert n. Chr. wurde es mit Mauern und Palisaden befestigt, groß genug, um die gesamte damalige Bevölkerung aufzunehmen. Auch ein lohnenswertes Ziel wäre Hall-Hangar nördlich von Visby, Gotlands größtes Naturreservat mit Wäldern, Mooren und Seen, wo Seeadler brüten.
Wer sich für mittelalterliche Kirchen begeistert, wird fündig zum Beispiel bei der Sandsteinkirche Öja bei Burgsvik im Süden Gotlands oder der Kirche von Gammelgarn mit dem freistehenden Kirchturm im Osten Gotlands. Und natürlich bei der beeindruckenden Ruine des Zisterzienserklosters von Roma im Zentrum der Insel.
Empfehlenswert ist auch ein Ausflug mit dem Boot auf die nur zweieinhalb Quadratkilometer kleine Insel Stora Karlsö südwestlich von Visby. Der unbewohnte Felsen ist eines der wichtigsten Naturschutzgebiete Schwedens, berühmt für seine reiche Vogelwelt und großen Kolonien von Trottellummen und Tordalken, die zu Tausenden auf und an den Klippen brüten. Im Sommer bietet der betreuende Naturschutzverein geführte Wanderungen an, übernachten kann man in der Jugendherberge – mitten in der Ostsee.
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