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Die Erfindung des Ungeborenen

Ultraschalluntersuchungen vermitteln werdenden Eltern das Gefühl, dass alles in Ordnung ist. Dabei hilft die Medizin-Technik, den Fötus als von der Mutter eigenständiges Wesen zu etablieren und ihm geschlechtsspezifische Eigenheiten zuschreiben zu können

Von Eiken Bruhn

In keinem anderen Land der Welt wird in der Schwangerschaft so viel „geschallt“ wie in Deutschland – das zeigen internationale Vergleiche. Drei Mal sollen in einer normal verlaufenden Schwangerschaft eigentlich ausreichen. Doch ein knappes Dutzend Mal würden Schwangere hierzulande im Durchschnitt sonografisch untersucht, zitiert die Gesundheitswissenschaftlerin Deborah Lupton in ihrem Buch „The Social Worlds of the Unborn“ eine Studie von 2007. Einen medizinischen Nutzen haben diese Sonografien nicht: Sie werden von den werdenden Eltern angefordert, um sich zu vergewissern, dass „das Kind noch da ist“ und mit diesem „alles in Ordnung ist“, wie es Schwangere beschreiben.

Dabei zeigen Studien, dass die Ultraschalluntersuchungen Einfluss auf das Schwangerschaftserleben haben. Als etwas Besonderes gilt der Moment, in dem das Geschlecht „entdeckt“ wird. Die Australierin Lupton schreibt vom „gender reveal moment“ auf „Ultraschallpartys“, ausgerichtet von kommerziellen Anbietern in Australien und den USA, die die Schwangere zu Hause vor Freunden und Verwandten zur Unterhaltung untersuchen. Der Moment, in dem das Geschlecht des Ungeborenen enthüllt wird, werde genutzt, um ein die Spannung steigerndes Überraschungselement in die Sitzungen zu bringen, schreibt Lupton.

Föten werden gemacht

Auch die deutsche Soziologin Birgit Heimerl hat in einem Buch von 2013 dem Dialog über das Kindsgeschlecht ein eigenes Kapitel gewidmet. Als teilnehmende Beobachterin für eine ethnografische Studie ging sie fünf Monate an jeweils zwei Vormittagen pro Woche in „die Ultraschallsprechstunde“ – so der Name des Buchs – einer großen Klinik. Dort wurden Schwangeren pränataldiagnostische Untersuchungen angeboten. Heimerl rekonstruierte, wie dabei der Fötus als „Wissensobjekt“ entsteht. Das heißt: Sie setzte nicht voraus, dass es ihn, so wie er auf den technisch hergestellten Bildern erscheint, gibt – sondern vollzieht diesen Prozess erst nach.

Dabei beobachtet sie, wie Ärzt*innen mit ihrem vermeintlichen Wissensvorsprung gegenüber der Schwangeren umgehen, schließlich kann diese mangels Seherfahrung das Sonogramm nicht lesen. Auch die Ethnografin hat große Schwierigkeiten, nachvollziehen zu können, was die Ärztin auf dem Monitor entdeckt. „Ich habe nichts gesehen, was nach Geschlechtsteilen aussieht“, zieht sich durch ihre kursiv gedruckten persönlichen Aufzeichnungen oder „welches von den Schatten das Hodensäckchen ist, kann ich nicht erkennen“.

Vorläufig ein Mädchen

Mädchen, lernt sie in den Sitzungen, sind nur solange Mädchen, wie kein „Zipfelchen“ entdeckt wird, das auf einen Jungen schließen lässt. „Weibliche Ungeborene können noch männlich werden, d.h. sie sind also erst einmal nur vorläufig weiblich. Erst wenn ,nichts mehr nachgewachsen‘ ist, sind sie es endgültig.“ Für die Eltern, schreibt Heimerl, markiere die Geschlechtsfeststellung eine Wende. Sie könnten sich erstmals das Kind als Person mit „,geschlechtsspezifischen‘ Wesenseigenschaften“ vorstellen: „Über das Geschlecht Bescheid zu wissen, verschafft ihnen Erwartungssicherheit. Kennen sie es, dann wissen sie auch, was für ein Kind sie bekommen werden.“

Entsprechend bekommt der Fötus Eigenschaften. „Mädchen wird Sanftheit zugeschrieben, Jungs fühlen sich vielleicht lebhafter an“, sagte dazu Mechthild Neises, Professorin für psychosomatische Frauenheilkunde, dem Online-Portal Eltern.de. „Auch die Stimmlage, mit der man mit dem Baby im Bauch spricht, orientiert sich daran, ob es eine ,sie‘, ein ,er‘ oder eben noch ein ,es‘ ist“, hat sie beobachtet. Selbst körperliche Merkmale werden geschlechtlich konnotiert, stellte die Soziologin Birgit Heimerl fest: „Weibliche Ungeborene haben z. B. Hollywoodlippen, männliche Fußballerbeine.“

Die Mutter als Gefäß

Die Ultraschalluntersuchungen haben das Bild von Schwangerschaft auch in historischer Perspektive beeinflusst. So beschrieb die Medizinhistorikerin Barbara Duden 1991 in ihrem Buch „Der Frauenleib als öffentlicher Ort“, wie der Fötus als von der Mutter eigenständiges Wesen in die Welt kam – auch dadurch, dass er seit Ende der 70er-Jahre routinehaft auf Monitoren sichtbar gemacht werden konnte. Seitdem, sagt Duden, gilt die Mutter als eine Art „Gefäß“, die das werdende Leben in ihr schützen muss.

„Es ist, als ob der mütterliche Körper gar nicht gebraucht wird, um ein Kind zu produzieren“

Bevor der Fötus so in den Mittelpunkt des medizinischen Interesses geriet – Duden terminiert dies bis etwa zur Mitte des 20. Jahrhunderts –, hätten Frauen nicht „ein Kind erwartet“, wie es heute heißt, sondern sie wären „schwanger gegangen“. Dieses Verb beschreibt laut Duden einen Zustand, über den die Frauen allein am besten Bescheid wussten. Nur sie konnten sagen, wann das Kind in etwa geboren werden würde und – solange keine Kindsbewegungen spür- und sichtbar waren – ob sie überhaupt schwanger waren. Oder ob ihnen nur „das Monatsblut stockte“. In einer solchen Lesart, schreibt Duden, könne auch kein „Fötus abgetrieben“ werden, sondern lediglich das über Monate gestockte Monatsblut „mithilfe der Hebamme und der entsprechenden Kräuter wieder in Gang“ gebracht werden.

Deborah Lupton sieht es ähnlich. Der Ultraschall und andere bildgebende Verfahren sind ihr zufolge verantwortlich für die „Individualisierung und Infantilisierung des Fötus. Diese Bilder, und wie sie von Untersuchenden und werdenden Eltern diskutiert und interpretiert werden, lassen die Grenzen verschwimmen zwischen den Konzepten des ,Fötus‘ und des ,Kindes‘“. Dabei sei der Fötus – darin ist sie sich mit Duden einig – zum Zeitpunkt des massenhaften Einsatzes von Schwangerschaftssonografien schon als solcher bekannt gewesen. Neu ist für sie, dass es jetzt schon vor der Geburt ein „Kind“ gibt, „mit dem die es Betrachtenden […] eine Beziehung“ haben. Sie beschreibt, wie Untersuchende und werdende Eltern dem Bild, das sie auf dem Monitor sehen, eine Persönlichkeit attestieren, beispielsweise „schüchtern“ oder kooperativ. Es soll aussehen „wie sein Vater“ und wird aufgefordert, „für die Kamera zu lächeln“ oder „Mama Hallo zu sagen“.

Plazenta nicht im Bild

Lupton untersucht auch andere Arten der Visualisierung von Föten und stellt fest, dass sie fast immer so gezeigt werden, als existierten sie unabhängig von der Mutter. Keine Plazenta, keine Gebärmutterwand stört das Bild eines „erhabenen Körpers, wie ein leuchtendes Juwel, eine Gestalt von Schönheit und Wundern“. Stattdessen schwebten die Föten im Nichts, oft vor schwarzem Hintergrund, der das „Wunderbare“ noch betont. Das beginnt bei den bekannten Fotografien von Lennart Nilsson („Ein Kind entsteht“) aus den 70er-Jahren, die zum ersten Mal angeblich das Kind im Bauch zeigten. Tatsächlich handelte es sich in den meisten Fällen um tote Föten, die außerhalb des Mutterleibs fotografiert wurden. Heute, sagt Lupton, seien es computergenerierte Filme, von denen einer der bekanntesten die Entwicklung von der Zelle bis zum Baby dokumentiere, ohne ein einziges Mal die Mutter zu zeigen, und bemerkenswerterweise den Moment der Geburt und die Wochen danach übergeht. Stattdessen endet der Film mit einem etwa sieben Monate alten Baby, das sich aufsetzt. „Es ist, als ob der mütterliche Körper nie existiert hat und gar nicht gebraucht wird, um ein Kind zu produzieren.“

Lupton merkt wie Duden kritisch an, dass dem Ultraschallbild und seiner Interpretation mehr Glauben geschenkt wird als der Frau und ihrem Wissen über ihren Zustand. „Die verkörperten Empfindungen der schwangeren Frau in Bezug auf das Ungeborene haben ihren Wert verloren, überwältigt von der vermeintlichen Präzision, die die medizinisch-wissenschaftlichen Instrumente anbieten.“

Dieser Artikel erschien zuerst im Hebammenforum (01/18) in längerer Fassung. Nachdruck mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.

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