: Sommer am Scheideweg
Neues von der beliebtesten Weggabelung der Welt: Keine Ruhe im Juli und August
Alle paar Wochen schauen wir uns am Scheideweg um, was so los ist und wer neu eingetroffen ist an der beliebtesten Wegkreuzung der Welt. Und üblicherweise schreiben wir dann einen kleinen Monatsbericht, der oben auf der Wahrheit-Seite seinen Platz findet. Doch in diesem Sommer ist alles anders. Im Januar hatte die Wahrheit das „Jahr der Veränderungen“ ausgerufen, und es war einiges Neues passiert: neue Bücher, ein New-York-Besuch – nur die Neuwahlen, die wollte die Wahrheit eigentlich nicht, und deshalb entschuldigen wir uns noch einmal in aller Form bei den deutschen Wählern und Politikern für die Scherereien, die alle Beteiligten nun durch die prophetische Wahrheit erdulden müssen.
Im Zeichen der Veränderungen aber treibt es in diesem Sommer beinah alle an den Scheideweg. „Wir stehen am Scheideweg“, erklärt der neue VW-Markenvorstand Wolfgang Bernhard am 4. Juli auf einem Aushang, den er in den Wolfsburger Produktionsstätten anbringen ließ. Ob die VW-Arbeiter vom Besuch des Scheidewegs erfreut waren, wurde nicht übermittelt. Allerdings hätten sie dort einen Titanen des Volks angetroffen: Oliver Kahn. „Kahn in WM-Saison am Scheideweg“, meldet die Nachrichtenagentur dpa am 5. August. Sollte sich Kahn nicht besser ein anderes Trainingslager suchen, als ausgerechnet den stets überfüllten Scheideweg?, fragten sich die Scheidewegbeobachter und bezweifelten, ob Kahn so bei der Fußballweltmeisterschaft 2006 in Höchstform sein würde.
Zur Überfüllung der weltbekannten Kreuzung beitragen in diesem Sommer außerdem der Sudan, den die Konferenz der G-8-Staaten am 8. Juli dort sichtet, sowie der gute alte Nahe Osten, den verschiedene Kräfte der Weltpolitik wieder einmal als Besucher des Scheidewegs begrüßen: „Die Region steht am Scheideweg“, weiß die US-Außenministerin Condoleezza Rice am 21. Juli. Ebenfalls ein alter Bekannter ist Deutschland, das der CDU-Generalsekretär Volker Kauder am 26. Juli dort auszumachen glaubt: „Unser Land steht am Scheideweg“, erklärt Kauder.
Probleme suchen sich gegenseitig, heißt es, und so verwundert es niemanden, dass Deutschland am Scheideweg auf ein anderes Sorgenkind trifft: „Nach der kurvenreichen Discovery-Retourkutsche steht die Nasa am Scheideweg“, schreibt die Leipziger Volkszeitung am 9. August. Nicht wenige Scheidewegbeobachter fragen sich allerdings, was der Kommentator der Leipziger Volkszeitung mit einer „kurvenreichen Retourkutsche“ meint? Handelt es sich um ein Meisterwerk der Alliteration oder um einen rhetorischen Unfall? Steht die Leipziger Volkszeitung womöglich selbst am Scheideweg?
Dort wunderbar aufgehoben allerdings ist ein Verein, der bei seiner Benennung überaus clever ausgerechnet auf das Naheliegende gekommen ist: „Scheideweg e. V.“ heißt ein Verein in Göttingen, der sich der „Information und Beratung bei Trennung und Scheidung“ gewidmet hat. Nicht, dass wir den Göttingern ein tränenreiches Ende wünschten, aber eines Tages sollten sie selbst einmal die Weggabelung aufsuchen, und sei es nur, damit wir lesen dürfen: „Scheideweg e. V. steht am Scheideweg“.
Doch statt in die Zukunft schauen wir lieber in die Vergangenheit. Die Geschichte des Scheidewegs zeugt von einer großen Tradition, die zum Beispiel direkt ins Jahr 1956 führt. Seinerzeit veröffentlichte der Pferdefachmann Erich Glahn das epochale Werk „Reitkunst am Scheideweg“, das uns eine Leserin mit einem leider unleserlichen Namen zukommen ließ. Glahns Werk handelt von den XVI. Olympischen Reiterspielen 1956 in Stockholm und berichtet Dramatisches: Von der Motorisierung bedroht, „taumelt die Reiterei jetzt auf einem schmalen Grat dahin, notdürftig in der Balance gehalten …“ Was für eine schreckliche Vorstellung, dass die Reitkunst abstürzen könnte. Wo doch „niemand kühl im Herzen bleibt, wenn sich der Vollblüter im Endkampf fast auf den Boden streckt und das Springpferd Höhen überwindet, die seine eigene Größe weit überragen“. Ja, so geht’s 1956 zu am Scheideweg: Mit heißem Herzen finden Vollblüter im Endkampf ihre wahre Größe. Ganz wie das deutsche Volk, das ja gerade erst vollblütig im Endkampf stand und bedroht wurde von dunklen Kräften, die für die Reiterei „Engpässe geschaffen [haben], aus denen Scheidewege hinausgehen“, wie Glahn schreibt, der erstaunlicherweise mehr als einen Scheideweg zu kennen scheint. Selbst wenn er sich dabei mächtig im Dickicht der Metaphorik verirrt, hat Glahns Werk doch eine große Wirkung an der Kreuzung aller Kreuzungen hinterlassen. Noch heute nämlich trifft mancher Herrenreiter hoch zu Ross am Scheideweg ein, um dort tief zu fallen. Im kommenden Jahr feiert die Wahrheit deshalb „50 Jahre Reitkunst am Scheideweg“.
Eine in gewissem Sinne auch reiterliche Anekdote soll daher den Abschluss des sommerlichen Scheidewegberichts bilden. Sie stammt aus Friedrich Torbergs Geschichtensammlung „Die Erben der Tante Jolesch“ und geht so: „Er [Franz Molnár] beteiligte sich auch an den Beratungen, die in den einschlägigen Wiener Kaffeehäusern über den Titel eines aus England importierten Stücks stattfanden. Das Stück – dessen Originaltitel ‚The Orchids of Silvergate Castle‘ für die deutsche Übersetzung unbrauchbar war – handelte von der inneren Zerrissenheit eines jungen Lords, der sich nicht entschließen konnte, um einer jungen Lady willen die Beziehung zu seinem Butler aufzugeben. Molnárs Titelvorschlag lautete: ‚Der Arsch am Scheideweg.‘“
Wir beobachten den Arsch … – Pardon, den Scheideweg auch künftig weiter. MICHAEL RINGEL