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Archiv-Artikel

„Berlin ist Vorreiter darin, Kinder zu vernachlässigen“

BILDUNG Der Gründer der „Arche“, Bernd Siggelkow, fordert mehr Geld für Kinder statt für Flughäfen

taz: Herr Siggelkow, wann werden Kinder zu Verlierern?

Bernd Siggelkow: Sie werden zu Verlierern, wenn ihre Chancen vom ersten Tag an schlecht stehen, weil sie von ihren Eltern und von der Schule nicht unterstützt werden.

Sie beschreiben Kinderarmut anhand drastischer Beispiele. Die meisten Fälle stammen aus Berlin.

In Berlin ist jedes dritte Kind arm. Viele dieser Kinder haben Schulprobleme, sie kommen im Unterricht nicht mit und werden nicht gefördert: Sie bekommen etwa keine privaten Sport- oder Musikstunden. Viele bleiben auf der Strecke.

Wieso kriegt der Senat das Problem nicht in den Griff?

Berlin ist Vorreiter darin, Kinder zu vernachlässigen. Die hiesige Politik sieht Kinderarmut nur als ein Thema unter vielen, für sie stecken da keine Menschen dahinter. Kinder werden auch nicht als zukünftiger Wirtschaftsfaktor gesehen. Viele Politiker denken nur bis ans Ende ihrer Amtszeit. Ich bin deshalb für ein Kinderwahlrecht.

Sie bezeichnen Schulen als „Idiotenfabriken“. Warum?

Kinder sind natürlich keine Idioten, alle haben Potenzial. Es gibt begabte, mittelmäßige und schlechte Schüler. Deutschland versucht, Schulklassen nach vorn zu bringen, in Schweden will man jeden einzelnen Schüler fördern. Dafür bräuchte es mehr Lehrer.

Wozu führt Bildungsarmut?

Sie spaltet die Gesellschaft. Wir haben Reiche, die ihre Kinder auf Privatschulen schicken und insgesamt über eine Milliarde Euro pro Jahr für Nachhilfe ausgeben. Auf der anderen Seite gibt es die Verlierer der Gesellschaft, die einen Schulbesuch nicht mal wichtig finden.

Sie rechnen in Ihrem Buch vor: 50 Prozent weniger Schulabbrecher sind gleich 420 weniger Morde. Wenn alle Abitur haben, gibt es also keine Morde mehr. Das ist ein bisschen einfach, oder?

Zugegeben: Dass es keine Morde mehr gibt, ist utopisch. Ich glaube aber, wenn man diese Mörder in der Kindheit besser gefördert hätte, wären weniger Delikte begangen worden.

Ihr Gegenmittel wäre es, den Bildungsföderalismus abzuschaffen. Das braucht Jahre. Was kann man heute tun?

Ein gutes Modell ist die Berliner Gemeinschaftsschule. Und was man sofort machen könnte: mehr Lehrer einstellen. Wir bräuchten auch Sozialpädagogen. Bei Bildung geht es ja nicht nur um das Lernen, sondern auch um Beziehung, Bewegung, Sozialkompetenz und Gesellschaftsbefähigung. Dass sich Schulen verändern können, hat die Rütli-Schule bewiesen.

Woher soll das Geld kommen?

Es gibt doch genügend Geld. Nehmen Sie die Kanzler-U-Bahn oder den neuen Flughafen. Dafür ist Geld da, für Kinder nicht.

INTERVIEW: LAURENCE THIO

■ Bernd Siggelkow ist Pastor und Gründer der Kinderhilfsorganisation „Die Arche“. Sein neues Buch, „Deutschlands verlorene Kinder. Warum unser Bildungssystem Verlierer produziert“, ist bei Rowohlt erschienen und kostet 14,95 Euro