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Gegen die Perfektion

Wie eine Gesellschaft mit der Darstellung weiblicher Lust umgeht, sagt viel über ihren Zustand aus. Das zeigen derzeit unter anderem Fotos von Araki bei C/O Berlin

Von Johanna Schmeller

Frankreich, 1954. Eine Fotografin schließt mit ihrem Partner einen Pakt: Sie wird in einer Villa von Männern missbraucht, gefoltert, an weitere ausgeliehen. Und ihre vollständige Unterwerfung beschreibt sie als unverfälschte Form von Liebe. Dem Roman „Die Geschichte der O.“ folgt ein Skandal, der sich über Jahrzehnte zieht. Die Frauenbewegung der fünfziger Jahre nimmt ab dem Erscheinungstag Anstoß. Hinter dem Autorenpseudonym „Pauline Réage“ vermuten sie einen alten, weißen, pervertierten Mann.

1975 wird das Werk von dem französischen Modefotografen Just Jaeckin verfilmt. Diesmal protestieren europaweit Feministinnen der zweiten Generation. Als sich die Autorin, Dominique Aury, Mitte der Neunziger zu erkennen gibt und reklamiert, selbst für Frauenrechte einzutreten, ist ihr Buch zum dritten Mal Gegenstand der feministischen Debatte. Während das dichotome Weltbild der Entstehungszeit jeden Schläger automatisch zum Täter, jede Geschundene zum Opfer gelabelt hatte, schwingt in dem Diskurs inzwischen auch die Frage mit, ob es nicht anders sein könnte: ob Freiwilligkeit im Leiden nicht eine Form sei, sich gesellschaftlichen Zwängen zu entziehen.

An dieser Frage knapst die bürgerliche Gesellschaft immer noch – während die Kunst sie längst durchdekliniert hat. Gesagt scheint alles. Ausgehandelt ist offenbar nichts. Berlin, 2019, eine #Metoo-Debatte später. Frauenrechtlerinnen der „Angry Asian Girls Association“ protestieren gegen eine Schau des 1940 in Tokio geborenen Fotografen Nobuyoshi Araki. Passanten ziehen mit unbewegten Mienen vorbei.

„Impossible Love“ heißt die Ausstellung in der Berliner Galerie C/O: Polaroids, Stillleben und pornografische Kunst. Der Zeitpunkt einer Wiederentdeckung Arakis war fast so vorhersehbar wie der Protest dagegen: Wenn in der Populärkultur Hashtags wie #Metoo, #Aufschrei oder #MenAreTrash aufploppen, sehen sich Kulturinstitutionen zu Recht in der Pflicht, der gesellschaftlichen Debatte mehr Raum zu geben als nur Twitterlänge. Sie zeigen, welche Künstler nach Antworten gesucht haben und ob ihr Werk eine neue Bedeutung haben könnte.

Würde lasse sich durch die Zustimmung zur Erniedrigung nicht retten, argumentieren Feministinnen. Doch kann Avantgarde nur ansetzen, wo eine Grenze verläuft. Wenn die gesprengt wird und es nicht um den Skandal geht, sondern um den Ausdruck eines Gefühls, das einen politischen Diskurs anstößt, dann fordert dies auch bisherige Sittenvorstellungen heraus. Ab da geht es selten um Sex oder Ästhetik – sondern um Deutungsmacht.

Ein Schulkind, das einen Penis zeichnen kann, sollte auch eine Vulva hinbekommen

Dass es mehr mit Sexismus zu tun hat, jede Auseinandersetzung mit weiblichen Genitalien zu vermeiden, als weibliche Lust öffentlich darzustellen, betont die Kulturhistorikerin Mithu M. Sanyal: Ein Schulkind, das einen Penis zeichnen kann, sollte auch eine Vulva hinbekommen. Die japanische Künstlerin Rokudenashiko wurde sogar festgenommen, als sie in einem Kanu, das einen vergrößerten Abguss ihrer Vulva darstellt, durch Tokio paddelte, um auf die Unterrepräsentation weiblicher Lust hinzuweisen. Bei einem jährlichen Fest des stählernen Penisses werden in Japan dagegen Lutscher in Penisform verteilt.

Zu wenig hiervon, zu viel davon: Wo Sexualität Teil der Konsumkultur wird, verliert sie ihren Reiz. So jedenfalls analysiert es das Theaterstück „No Sex“ von Toshiki Okada in den Münchner Kammerspielen. Es thematisiert die Sexverweigerung einer jungen Generation in Japan, die sich zwischen gesellschaftlicher Rigidität und erotischer Überforderung keine Lustzone mehr erobern kann. Rund die Hälfte der unverheirateten Japaner Mitte zwanzig hatte laut Studienergebnissen noch nie Sex.

In einer Kultur, die auf Standardisierung setzt, sehen sie für ihr Verlangen keinen Platz. Alles zu anstrengend. Sie verzichten lieber, postuliert Okada, um der Überforderung zu entkommen.

Araki komponiert seine Bilder mit provozierender Belanglosigkeit. Straßenfotografie klebt er über Sexfotos. Seine Hochzeitsreise wird in der Bilderserie „Sentimental Journey“ (1971) gezeigt. Die Ehe als konventionellste Partnerschaftsform wird durch die altjapanische Fesseltechnik Kinbaku kontrastiert. Polaroids von exotischen Blüten montiert er neben gespreizte Schenkel. Seine Frau fotografiert er in Momenten der Ekstase, wobei seine Bildkomposition – abgebrochene Zähne, abblätternder Nagellack, verwackelte Motive – Spontaneität suggeriert, die sich von der Idee der Perfektion abwendet. In diesem Bruch liegt eine, vielleicht sogar die Antwort: die Rückeroberung von Individualität.

Die Darstellung von Körperlichkeit zieht sich durch die Kunst, beginnend bei erotischen Wimmelbildern des niederländischen Malers Hieronymus Bosch. In den siebziger Jahren präsentiert die Wiener Aktionskünstlerin Valie Export ihre aufgeschlitzte Hose. Jürgen Klaukes frühe Arbeiten beschäftigten sich mit geschlechtlicher Identität. Ana Mendieta presst ihren nackten Körper zwischen Objektträger. Die übertrieben übergewichtigen oder alten Körper bei Malern wie Jenny Saville oder John Currin stellen Hochglanzmagazinen eine alternative Realität entgegen.

„Perfektion ist schrecklich. Sie kann keine Kinder gebären“, schreibt Sylvia Plath in ihrem Gedicht „Die Münchner Mannequins“. Vollkommenheit ist sich selbst genug. Erst der Bruch mit einer Konvention kann eine Debatte entstehen lassen. Die Arbeiten Arakis sind insofern politisch.

Dass Kunst Grenzen sprengt, indem sie Deutungsverschiebungen anregt, ist ihre genuine Aufgabe. Mehr noch: Dies bleibt die einzige Chance einer Gesellschaft auf emotionale Fortentwicklung. Denn was ins Schloss der O. hineinfantasiert oder während Arakis Hochzeitsreise einvernehmlich abfotografiert wird, hat im Zweifel weniger mit Selbstauslieferung zu tun als ein durchschnittlicher Arbeitsalltag einer Unternehmensberaterin.

Wer fähig ist, einen halben Schritt hinter Faszination und Unbehagen zurückzutreten, erkennt, dass es gerade Künstlern, die Schamgrenzen angreifen, um eines geht: eine Gesellschaft zu gestalten, in der Freiheit und Körperlichkeit lebbar bleiben. Die Wahl ist das Ziel.

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