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Die Bienenwaben von Çatalhöyük

DAAD-Stipendiatin Rossella Biscotti dokumentiert in ihrer Videoinstallation „The City“ Arbeiten in einer Ausgrabungsstätte in Südanatolien – und fragt implizit: Was ist kulturelles Erbe? Wer schreibt die Geschichte?

Die Bewohner betraten die Häuser über die Dächer, Gassen gab es nicht Foto: Rosella Biscotti

Von Ingo Arend

Ein terrassenartig abfallendes Gelände aus ineinander verwinkelten, erdfarbenen Steinmauern. In der labyrinthischen Szenerie sieht man eine Forschergruppe in den Fundamenten einer prähistorischen Siedlung kauern. Sorgsam sichern sie Funde, beugen sich über die kleinste Scherbe, diskutieren, vermessen das Gelände, deuten mit den Fingern in die Ferne.

Was ist eine Gesellschaft? Wie entstand sie? Warum ging sie unter? Unter diesen Fragen ließe sich Rossella Biscottis neue Arbeit subsumieren. In ihrer Videoinstallation „The City“ dokumentiert sie die Arbeiten in einer Ausgrabungsstätte in Südanatolien, in der Nähe von Konya. Çatalhöyük, der Schauplatz ihrer filmischen Recherche, gilt als Meilenstein der prähistorischen Archäologie.

Die Siedlung aus der Jungsteinzeit entstand 7.000 Jahre vor unserer Zeitrechnung. In den 2.000 Jahren ihres Bestehens konnte die rund 13 Hektar große Siedlung mehrere tausend Menschen beherbergen. Charakteristisch sind die eng aneinandergesetzten Stampflehmhäuser, die zusammenhingen wie eine riesige Bienenwabe und die man vom Flachdach aus betrat. Es gab keine Straßen oder Durchgänge zwischen den einzelnen Häusern.

Was für eine Gemeinschaft mag das gewesen sein, die dort hauste und ihre Toten unter den Häusern bestattete? Einerseits gilt sie unter Forschern als „Society of support“. Andererseits gab es keinerlei Gemeinschafts­einrichtungen.

Geschichte, die Unsicherheiten ihrer Interpretation, die Frage nach dem Archiv – diese Themen durchziehen Rossella Biscottis Werk als roter Faden. Ein richtiger Star ist die 1978 geborene Künstlerin hierzulande nicht. Dabei stellte sie schon auf der Manifesta, der Documenta und beim Kunstfestival Steirischer Herbst aus. Und ihre Arbeiten haben es in sich.

In „Processo“ rekonstruierte sie vor fünf Jahren das umstrittene Gerichtsverfahren gegen ehemalige Mitglieder der linken, außerparlamentarischen Bewegung „Autonomia Operaia“ 1982–84 mit sechs Stunden Audiomaterial und Betonabdrücken des Gerichtssaals. Vier Jahre zuvor hatte sie mit einer Skulptur aus den Standbildern von König Viktor Emanuel III. und Benito Mussolini für die nie realisierte Weltausstellung 1942 das Verhältnis von Kunst und Macht hinterfragt.

Auch die jüngste Arbeit Biscottis, 2018 zum ersten Mal im Kunsthaus Baselland gezeigt, in Berlin von Melanie Roumigière angemessen multiperspektivisch kuratiert, ließe sich unter dem Stichwort künstlerische Forschung einordnen: So sorgsam, wie Biscotti, derzeit DAAD-Stipendiatin in der Stadt, die skrupulöse Arbeit der ArchäologInnen filmisch dokumentiert, seziert, neu montiert.

Die 50-minütige Arbeit, als 5-Kanal-Video auf zwei gegenüberliegende Wände projiziert, nimmt der Betrachter wie sich überlagernde Schichten wahr. Kontrastiert wird sie von acht, nicht parallel geschalteten Tonspuren mit Gesprächen der WissenschaftlerInnen. „Wie es aussieht, waren sie biologisch nicht verwandt“, hört man die Forscher einmal über die Bewohner eines bestimmten Hauses rätseln.

Freilich ist der metaphorische Gehalt der auf den ersten Blick scheinbar spröden visuellen Langzeitrecherche unübersehbar. So wie die ForscherInnen da nach einer der frühesten Formen menschlicher Gemeinschaft suchen, bilden sie selbst eine Gemeinschaft, die sich im Verlauf der Forschung immer wieder neu formiert.

Was für eine Gemeinschaft mag das gewesen sein, die dort hauste?

Biscotti mag es mit ihrer raffinierten Collagetechnik mehr darum gehen, die Vorstellungen von Geschichte und Wissensproduktion zu unterminieren und zu kritisieren. Aber vor dem Hintergrund der autoritären Türkei heute wirkt „The City“ auf andere Weise beredt.

Grabungsleiter war der amerikanische Sozialanthropologe Ian Hodder. Der Wissenschaftler gilt als Pionier der investigativen Archäologie mit einem nicht hierarchischen, offenen Ansatz. Immer wieder lud seine Truppe auch ausländische Forscher zum interdisziplinären Dia­log. Ob Çatalhöyük eine matriarchale Kultur war, ist in der Forschung umstritten. Doch die winzige weibliche Figurine, eine Frau mit üppigen Brüsten und Schenkeln, die die Forscher finden, wirft die Frage nach einer egalitären Gemeinschaft auf, in der die Geschlechter wieder so gleichberechtigt sind, wie sie es vor 8.000 Jahren vielleicht schon einmal waren.

Im Jahr 2016, unmittelbar nach dem missglückten Putsch in der Türkei, mussten die Forschungen in Çatalhöyük eingestellt werden.

Biscottis letzte Aufnahmen zeigen die mit Sandsäcken geschützte Grabung wie eine Kriegsszenerie. Ihre spannende Arbeit hält die durch den türkischen „Shutdown“ still gestellten Fragen wach: Wie entsteht Gesellschaft? Was ist kulturelles Erbe? Wer schreibt die Geschichte?

Rosella Biscotti: The City. DAAD-Galerie Berlin. Bis 13. März 2019

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