: Es liegt ein Grauschleier über dem „roten Suhl“
In der DDR war die Kommune im Thüringer Wald Bezirkshauptstadt. Nach der Wende verschwanden erst Arbeitsplätze und dann Einwohner. Wie eine sterbende Stadt versucht, sich trotzdem wieder aufzurichten
Aus Suhl Michael Bartsch
Schöner kann eine Stadt kaum gelegen sein. Vom Wintersportzentrum Oberhof geht es über Zella-Mehlis sanft hinunter in das Tal der Hasel. Die Höhenzüge des Thüringer Waldes umrahmen die Stadt Suhl. Alles Wichtige ist fußläufig erreichbar. Trotz der versuchten sozialistischen Umgestaltung des Stadtkerns im Stil des dominierenden DDR-Stadtplaners Hermann Henselmann sorgen historische Bauten für eine freundliche Atmosphäre.
Warum winken dann so viele Thüringer nur ab, wenn Suhl erwähnt wird? Eine Stadt, in der zwei Drittel der Wohnungen für weniger als 5 Euro pro Quadratmeter vermietet werden? Eine Stadt, die im Mittelalter das Eisenerz entdeckte, durch Waffen- und Fahrzeugproduktion bekannt wurde? Müsste nicht jeder Halbwüchsige, der mit einem der kultigen Simson-S51-Feuerstühle jede Mopedkonkurrenz abhängt, in Ehrfurcht vor dem Stadtnamen Suhl erstarren?
Solche Jugendliche findet man in der Stadt des einstigen VEB Fahrzeug- und Jagdwaffenwerks „Ernst Thälmann“ relativ wenige. Im Vorjahr machte die U18-Gruppe nur 12 Prozent der Stadtbevölkerung aus, lediglich jeder Fünfte war jünger als 30 Jahre. Dafür hatte fast jeder dritte Einwohner die 65 überschritten. Über 56.000 Einwohner wurden Ende 1988 gezählt, bevor sich die „blühenden Landschaften“ im Beitrittsgebiet ausbreiteten. Heute sind es noch 35.000. Auf den Höhen der Vorstadt Suhl-Nord bekommt man einen Eindruck von den Folgen des Einwohnerverlustes.
Ein Stadtteil verschwindet
„Am fröhlichen Mann“ heißen hier zwei Straßen, ein Markt und eine Tankstelle, aber fröhliche Männer sind nicht anzutreffen. Nur Ältere, die viel Zeit haben, über den Niedergang zu lamentieren. „Das war hier mal ein eigener Stadtteil“, seufzt ein arbeitsloser Forstarbeiter Ende fünfzig. „Aber bis 2035 soll hier alles bis auf einige Backsteinbauten mit Eigentumswohnungen verschwinden.“ Junge Leute gingen mangels Arbeit weg.
Trotz etlicher bereits abgerissener Plattenblöcke ist die aufgelockerte Anlage von Suhl-Nord am Berg noch gut erkennbar. Viel Grün, viel Wald zwischen den Neubauten, auf der Höhe aber auch eine dominierende halbrunde Plattenzeile. Einige wenige junge Mütter bringen ihre Kinder in den Kindergarten. Für das Lebensende wiederum ist sogar einst ein eigener Friedhof begonnen worden. Doch auch dem mangelt es an Bewohnern. An das stecken gebliebene Projekt erinnert noch ein Rondell mahnender Säulen, ein kleines Stonehenge.
In der Nachbarschaft simuliert das Fitness- und Sportcenter Suhl pralles Leben, wirkt in seiner Großzügigkeit wie die Beschwörung der Nachwendehoffnungen. „Man kommt sich manchmal wie eingesargt vor, wenn man keine Menschenseele mehr sieht“, sagt eine Mittfünzigerin. „Aber ich bleibe hier bis zum Schluss“, bekräftigt sie, bevor sie in den unverändert hier verkehrenden Bus steigt.
Der „Schluss“ kann ja wohl keine Perspektive für ganz Suhl sein und gilt auch nur für die Randbezirke. Vom Nachwendeschock erholt sich die Stadt allmählich, dennoch ist die Frage, warum Suhl nicht in ähnlicher Weise boomt wie das rund 50 Kilometer entfernte Sonneberg an der früheren Westgrenze zu Franken. Eine Frage, die dem seit Anfang Juli amtierenden neuen Suhler Oberbürgermeister André Knapp zu stellen wäre. Aber er verspürt offenbar ebenso wenig Lust auf ein Interview wie sein bei den Kommunalwahlen 2018 knapp unterlegener Vorgänger Jens Triebel.
Suhl bleibt rot
Stattdessen plaudert Ina Leukefeld, die bewährte Hoffnung der Linken im Süden. Sie ist seit Langem Suhler Stadträtin und zog ungeachtet früherer Stasi-IM-Vorwürfe dreimal mit einem Direktmandant in den Landtag ein. Die PDS in Suhl lag schon in den 1990er Jahren bei 30 Prozent. Die Linke löste 2004 die CDU als stärkste Stadtratsfraktion ab und hat heute ein Drittel der Sitze.
Leukefelds Rückblick lässt sich als Erklärung für das Schrumpfen der Stadt auf ihr angestammtes Maß interpretieren. Obschon beispielsweise die Reichswehr mit Waffen aus Suhl ausgerüstet wurde, galt die Stadt doch als das „rote Suhl“. Während des Kapp-Putsches 1920 beispielsweise vertrieben Arbeiterwehren die Milizen. In der Nazidiktatur harrten linke Widerstandszellen in der Stadt aus.
Als 1952 in der DDR die Ländergliederung liquidiert und Bezirke mit eigenen Hauptstädten eingeführt wurden, zog die SED das proletarischere Suhl dem bürgerlich geprägten Meiningen im Süden Thüringens vor. Die Förderung ließ die Stadt expandieren, erregte aber auch den Neid der Nachbarstädte. Ein Flugplatz und die Offiziersschule sind Beispiele des Aufwuchses in der DDR. „Man merkte, wohin es mit dem Sozialismus einmal gehen sollte“, blickt die 64-jährige Ina Leukefeld zurück. Umso größer sei die „Demütigung“ durch den Verlust von Arbeitsplätzen und Einwohnern nach 1990 gewesen.
Vom wichtigsten Suhler Großbetrieb mit einst 6.000 Arbeitsplätzen ist nur noch ein Museum geblieben. Im Kongresszentrum CCS stehen die Mokick- und Mopedlegenden SR 1, Star, Schwalbe, Sperber, S 50/51, die man in der DDR mit 15 Jahren fahren durfte und die 65 km/h Spitze schafften, der Sperber sogar noch mehr. Der millionste SR 51 von 1990 ist hier ausgestellt und die Experimente der Entwicklungsabteilung mit neuem Design oder Wasserkühlung und gar ein Elektroroller von 1989.
Nach der Wende ungewollt
Joachim Scheibe, der als Chefkonstrukteur bei Simson verantwortlich war, leitet heute das Fahrzeugmuseum. Der unverbraucht wirkende 71-Jährige ist nicht verbittert, aber erzählt die alten Geschichten spürbar ungern. „Nicht gewollt“ seien die Simson-Zweiräder und die Haushaltsgeräte nach der Einheit gewesen. Die Liquidierung der Mopedproduktion zählt zu den üblen Kapiteln der sogenannten Treuhand, zu denen nachträglich die Legenden von fehlender Wettbewerbsfähigkeit gesponnen wurden.
Die Unternehmensberatung Roland Berger erstellte eine Studie, ohne das Werk je besichtigt zu haben. Die schnellen Flitzer aus Suhl entsprachen nicht den westdeutschen Richtlinien – 50 km/h Höchstgeschwindigkeit! – und störten wohl vor allem die Konkurrenz. Der „schwärzeste Tag von Simson“ sei ein Gespräch mit den „Apparatschiks“ im Bundesverkehrsministerium gewesen, erinnert sich Scheibe. Nach zwei Jahren Zwangspause habe man es in Suhl bis 1998 trotzdem wieder mit angepassten Modellen versucht. Vergeblich, der Faden war gerissen, das Servicenetz kaputt.
Von solchen Tiefschlägen würde sich jede Kleinstadt nur mühsam erholen. Von den 70 Millionen Euro Schulden 2010 hat die Stadt immerhin einiges abbauen können. Von der nach der Wende eingesparten ehemaligen Thüringen-Philharmonie Suhl blieb zwar nur noch das Gebäudeportal. Aber die Stadt leistet sich trotz steigender Sozialausgaben wegen des hohen Altersdurchschnitts immer noch mehrere Kultureinrichtungen, hauptsächlich Chöre. 2004 öffnete die Stadtbücherei.
Gegenüber vom Neuen Rathaus liegt die „Kulturbaustelle“. Das Erdgeschoss eines Plattenblocks ist sozusagen der Ersatz für das nicht mehr bespielte große Kulturhaus. Hier kokettiert man mit dem Provinzimage. Niederschwellige Angebote für alle Generationen gibt es in den Räumen, Liedermacher, Lesungen, Programmkino, ein Straßentheaterfestival, Party, alle zwei Monate ein Kulturstammtisch. Der Verein erhält von der Stadt gerade mal 500 Euro monatlich, muss aber 630 Euro Betriebskosten aufbringen. Eintrittsgelder, Spenden, Gewinne aus der Bewirtung und Personalkostenübernahme durch die Arbeitsagentur sichern das Überleben.
Viel Kluges über seine „in der DDR aufgeblasene“ Stadt ist von Boris Dittrich zu erfahren. Der 49-Jährige ist Vereinsvorsitzender der Kulturbaustelle. Nicht nur, dass Suhl die bundesweit höchste Dichte an Kleingärten aufweise. „Erst mal alles zerkloppen“ sei das Motto nach der Wende gewesen, zum Beispiel die Offiziersschule. Der Film „Sushi in Suhl“ hat 2012 immerhin noch dem einzigen japanischen Restaurant der DDR ein Denkmal gesetzt. Dittrich beobachtet ein gestörtes Selbstbewusstsein der Leute, dessen Folge eine verbreitete Selbstabwertung sei. „Sie verlieren den Blick für die schönen Sachen!“
Nach Ladenschluss werden abends tatsächlich die sprichwörtlichen Bürgersteine hochgeklappt, wirkt Suhl tot. Und doch scheint die Talsohle durchschritten, kehren „Westflüchtlinge“ in den Vierzigern wieder teilweise zurück. „Vieles hat sich stabilisiert“, meint auch Ina Leukefeld. „Suhl ist besser als sein Ruf!“
Aber weder sie noch Oberbürgermeister André Knapp glauben, dass Suhl auf Dauer seine kommunale Leistungsfähigkeit als kreisfreie Stadt erhalten kann. Derzeit laufen Sondierungen über einen Zusammenschluss mit dem Nachbarlandkreis. Die Entscheidung fällt im März.
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