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Coming of Age verkehrt rum

In Hannover bringt Mina Salehpour F. Scott Fitzgeralds Novelle „Der seltsame Fall des Benjamin Button“ auf die Bühne. Button altert rückwärts, aber die Inszenierung verschenkt das theatrale Potenzial der inspirierenden Idee

Von Jens Fischer

Die Ära des Schauspiel­intendanten Lars-Ole Walburg neigt sich in Hannover dem Ende und einige Regisseure halten mit ihren Abschiedsproduktionen Rückschau. Mina Salehpour versucht das grundsätzlich und widmet sich mit F. Scott Fitzgeralds „Der seltsame Fall des Benjamin Button“ der Erbarmungslosigkeit der Zeit: Immer stur geradeaus, der Zukunft entgegen, unhintergehbare Bedingung allen Seins und seiner Wahrnehmung. Das hat schon Kant philosophiert. Eine Herausforderung!

Aber warum soll man sich nur im Raum, nicht auch in der Zeit vorwärts und rückwärts bewegen können? Im Science-Fiction-Genre befreien sich Helden gern mal von den Naturgesetzen und suchen kreuz und quer auf der Zeitachse Abenteuer.

Fitzgerald hat diese Umkehrung der Zeit mit charmant schnörkelloser Eleganz als Gedankenexperiment in seiner Kurzgeschichte über „Benjamin Button“ ausformuliert. Darin schenkt ein Knopffabrikant der Welt die Geburt eines Menschen. Aber der Stammhalter kommt im schrumpeligen Opa-Körper zur Welt – und wird als Säugling sterben: rückwärts altern. Eine inspirierende Idee, mit der sich theatral prima übers miese Image des Alterns nachdenken lässt, über persönliche Entwicklung, soziale Verwirklichung und demenziellen Verlust der Ich-Identität.

Salehpour nutzt den Stoff erst mal, die eigene künstlerische Entwicklung vorzuführen: von der fantasiesprühenden Erkunderin zur fantasiesprühenden Gebieterin über die Theatermittel. Salehpour hat den Abschied von Hannover längst mit dem Erklimmen der nächsten Stufe ihrer Karriereleiter beantwortet – ist Hausregisseurin am Staatsschauspiel Dresden.

Während die Verfilmung des Button-Stoffes 2008 durch David Fincher auf eine melodramatische Liebesgeschichte, digitale Bildbearbeitung und Maskenbildnerei setzte, wird Verjüngung bei Salehpour durch fließende Rollenübergabe auf offener Bühne verdeutlicht.

Es knistert aus den Lautsprechern – als würden alte Schallplatten im Leerlauf rotieren. Vom Bühnenhimmel funzeln sternengleich Dutzende Glühbirnen. Button senior steht freudig erregt vor den Zuschauern der Ballhof-Bühne, während eine Hebamme mit dem gestenreichen, überdrehten Bewegungskanon des Stummfilms im Bühnenzentrum herrscht, wo ein mit Papierlamellen verdeckter Raum installiert ist für kleine Geheimnisse und große Verwandlungen.

Die Geburtshelferin stürzt hervor, muss erst mal einen Schluck Desinfektionsalkohol trinken. Dann bittet sie den Vater ans Kindsbett und hält die Luft an. „Wer sind Sie? Was ist das? Wo ist mein Kind?“, schreit er und versucht seine Enttäuschung damit zu kaschieren, dass er für Sohn Benjamin sogleich einen Faschings-Matrosenanzug erwirbt.

Die Zeit hilft

„Showtime“, ruft der Vater bei der ersten öffentlichen Präsentation des Nachwuchses. Darsteller Ingo Müller-Beck tritt gebeugt auf, tapst arthrosestarr herum, Babystaunen unterm grauen Resthaar. „Brumm, brumm, brumm“ – das Kleinkind saust im Seniorenkörper mit einem Rollstuhl über die Bühne, verfolgt von der kleinen Josephine (Lisa Natalie Arnold). Beide tollen miteinander, verknäulen sich ineinander, so dass die Kindergärtnerin ihn als pädophilen Lustgreis und sie als frühreifes Mädchen zur Ordnung ruft.

Aber die Zeit hilft, sich zueinander zu entwickeln. Josephine wird Teenie, Benjamins Körper streckt sich, er gibt einen Jugendlichen und spürt den „Hauch von winterlich frischer Röte“ auf seiner Haut: Coming of Age – verkehrt herum. Da werden auch Damen der Gesellschaft auf ihn aufmerksam. Atalanta Washington etwa führt Benjamin vom Rollatorsitz aus in die Raffinessen des Verführens ein – so sanft humorvoll benutzt die reife Frau den unerfahrenen Jungen für ihre erotischen Zwecke, dass der #Metoo-Aspekt mit heftigem Augenzwinkern weggeschmunzelt wird.

Ebenso die Verführungen durch Josephine. 18-jährig kokett begehrt sie den mehr als doppelt so alt ausschauenden Benjamin, den inzwischen Daniel Nerlich spielt. Mit trunkener Lebenslust sind beide Vorgriffe auf Fitzgeralds Partylöwen-Welt in „Der große Gatsby“. Während rechts auf der Bühne meist ein Fitzgerald-Darsteller hockt, das Geschehen kommentiert, seine Entwürfe redigiert oder in eine Schreibmaschine neues Textmaterial hämmert.

Benjamin lebt den Traum, jeden Tag jünger, fitter, begehrenswerter auszusehen und swingt seine Bewegungen immer tänzerischer aus der Hüfte. Der nun ins Jugendwahnklima passende Sohn übernimmt Roger Button & Co. Wholesale Hardware. Und begegnet seiner Josephine wieder, die bereits von der Melancholie des menschlichen Zerfalls angekränkelt scheint. Aber es ist der einzige Moment, wo sich die Zeiger beider biologischen Uhren treffen. Das Paar verzieht sich kurz in den Zauberraum auf der Bühne und zeigt im Schattenspiel ihr wechselseitiges Entkleiden. Sie wird schwanger, er flieht erlebnishungrig in die Welt – und kehrt als Kriegsheld heim.

Erst ist dann Johanna Bantzer Benjamin und aus der Hilflosigkeit des Alters ist die des Kleinkindes geworden. Schließlich übernimmt Arnold die Hauptrolle: Ihrem Benjamin scheinen die Lebenserfahrungen gelöscht zu werden. Orientierungslos irrt er herum, betreut von seinem inzwischen erwachsenen Sohn – der nun der Vater seines Vaters ist. Da lugt die Pflegedebatte um die Ecke.

Aber nie wird die Inszenierung geöffnet, um solcher Themen anzunehmen. Und weil Benjamin ein Mann ohne Eigenschaften ist, liegt der Reiz des Abends vor allem in den kuriosen Verwicklungen, die auf den Widersprüchen von körperlicher Gestalt und geistiger Ausgestaltung beruhen. Zudem unterwirft sich Salehpour der Diktatur der Zeit, erzählt ohne Gespür für Spannungsbögen chronologisch die Novelle nach. Kein Regiewille sorgt für Turbulenzen. Keine Empörung über die Zumutungen der Zeit. Alles fließt – betäubend komödiantisch vorbei.

Sa, 19. 1., 17 Uhr, Schauspiel Hannover, Ballhof Eins. Weitere Aufführungen: 1./15./21. 2., 19.30 Uhr

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