: Kein Weg zu weit
Andy Murray zeigt noch einmal großes Tennis und doch verliert er. Es könnte das letzte Match seiner Laufbahn gewesen sein
Aus Melbourne Doris Henkel
Vier Stunden und zehn Minuten dauerte das vielleicht letzte Spiel seiner Karriere, und in diesen 250 Minuten steckte alles, was zu Andy Murray gehört. Obwohl er in seinen Bewegungen sichtlich eingeschränkt war, war ihm kein Weg zu weit, kein Berg zu hoch und kein Grat zu gefährlich. Als er vor ein paar Tagen seinen Rücktritt angekündigt hat, hatte er gesagt, an manchen Tagen habe er solche Schmerzen in der operierten Hüfte, dass er sich kaum die Socken anziehen könne. Aber an diesem Abend in Melbourne drückte er mit jeder Faser seines strapazierten Körpers aus, dass er vor allem das im Sinn hatte, was ihn während seiner ganzen Karriere ausgezeichnet hatte – den Krug bis zum letzten Tropfen zu leeren.
Viele Beobachter der Szene hatten befürchtet, gegen einen starken Spieler wie den Spanier Roberto Bautista Agut, die Nummer 22 der Welt, werde Murray auf verlorenem Posten stehen. Aber bei den speziellen Spielern gibt es keine verlorenen Posten, und so passte es ins Bild, dass er gegen den läuferisch deutlich überlegenen Spanier fünf Sätze lang durchgehalten hat. Gefeiert und frenetisch angefeuert vom Publikum, das ihm eine stimmungsvolle Bühne bereitete, das ihn mit Gesängen und rhythmischem Klatschen unterstützte, rannte Andy Murray mit unrunden Bewegungen von Melbourne bis Buffalo.
Wenn er es sich aussuchen könnte, das hatte er bei seiner Rücktrittsankündigung erzählt, dann würde er sich am liebsten in Wimbledon vom Tennis und von seinem Publikum verabschieden, aber angesichts der täglichen Schmerzen ist er nicht sicher, ob er so lange durchhalten wird. Um eine Ahnung zu haben, wie schwer diese ganze Situation ist, musste man während des Spiels nur das Gesicht seines Bruders Jamie anschauen. Der litt auf der Tribüne sichtlich mit und schien ein paar Mal den Tränen nahe zu sein.
Vier Sätze wehrte sich Murray mit ganzer Kraft, im fünften war Roberto Bautista Agut körperlich einfach zu überlegen, und man sah das Ende kommen. Als es vorbei war, ging der Spanier auf die Seite des Schotten und umarmte ihn. Beim Interview auf dem Platz und bei einer emotionalen Videobotschaft von Kolleginnen und Kollegen hatte sich Murray relativ gut im Griff – anders als ein paar Tage zuvor, als er unter Tränen in einer Pressekonferenz seinen bevorstehenden Rücktritt verkündet hatte.
In zwei Sätzen, die beinahe alles enthielten, was ihn ausmacht, fasste er die Ereignisse der vier Stunden und zehn Minuten bei diesem 4:6, 4:6, 7:6, 7:6, 2:6 in der Melbourne Arena zusammen: „Falls das hier mein letztes Spiel war, dann war es ein unglaubliches Ende. Ich habe alles gegeben.“
Andy Murray
Mit all den Kommentaren, Reaktionen und Sympathiebekundungen, die Murray nach seinem angekündigten Rücktritt erhalten hatte, hätte man ein blumiges Poesiealbum füllen können. Vor allem aus dem Kreis der Kolleginnen kamen viele mitfühlende Kommentare, der schönste von einer jungen Spielerin, die ihn eigentlich kaum kannte. In ihrer leisen, sehr bedacht nach den richtigen Worten suchenden Art beschrieb die Japanerin Naomi Osaka die erste gemeinsame Begegnung mit Murray vor zwei Wochen beim Turnier in Brisbane. „Wir fingen an zu reden, und er war so nett. Jetzt hab ich das Gefühl, als hätte ich einen Freund verloren, obwohl er kein Freund ist. Aber ich hab jemanden verloren, der ein Freund hätte sein können.“
Es kommt nicht darauf an, aus welchem Blickwinkel man Andy Murrays Zeit auf dem Planeten Tennis betrachtet. Ob aus dem rein sportlichen Winkel mit der eindrucksvollen Bilanz von drei Grand-Slam-Titeln (US Open 2012, Wimbledon 2013 und 2016), zwei olympischen Goldmedaillen und einem entscheidenden Beitrag zum britischen Davis-Cup-Sieg 2015 – und das in einer Ära mit so überragenden Spielern wie Roger Federer, Rafael Nadal und Novak Djokovic. „Wie werden ihn vermissen“, sagte Nadal. „Er wird ein Verlust für uns, für die Welt des Tennis, für die Tour, für die Fans und auch für die Rivalen sein. Aber solche Dinge passieren. Heute ist er es, morgen wird es ein anderer sein, wir sind ja nicht mehr 20.“
Nach Andy Murrays Rücktritt, wann auch immer dieser dann genau stattfinden wird, steht eines jedenfalls fest: Die Zeit der großen Quartetts im Männertennis ist dann unwiderruflich vorbei.
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